Als das Herzogthum Mailand bereits um 1480 durch6. Abschnitt. die innern Krisen nach dem Tode des Galeazzo MariaAllgemeiner Frevelsinn. Sforza erschüttert war, hörte in den Provinzialstädten jede Sicherheit auf. So in Parma 1), wo der mailändische Gubernator, durch Mordanschläge in Schrecken gesetzt, sich die Freilassung furchtbarer Menschen abdringen ließ, wo Einbrüche, Demolitionen von Häusern, öffentliche Mord- thaten etwas Gewöhnliches wurden, wo zuerst maskirte Verbrecher einzeln, dann ohne Scheu jede Nacht große be- waffnete Schaaren herumzogen; dabei circulirten frevelhafte Späße, Satiren, Drohbriefe und es erschien ein Spott- sonett gegen die Behörden, welches dieselben offenbar mehr empörte als der entsetzliche Zustand selbst. Daß in vielen Kirchen die Tabernakel sammt den Hostien geraubt wurden, verräth noch eine besondere Farbe und Richtung jener Ruch- losigkeit. Nun ist es wohl unmöglich zu errathen, was in jedem Lande der Welt auch heute geschehen würde, wenn Regierung und Polizei ihre Thätigkeit einstellten und den- noch durch ihr Dasein die Bildung eines provisorischen Re- gimentes unmöglich machten, allein was damals in Italien bei solchen Anlässen geschah, trägt doch wohl einen besondern Character durch starke Einmischung der Rache.
Im Allgemeinen macht das Italien der Renaissance den Eindruck, als ob auch in gewöhnlichen Zeiten die gro- ßen Verbrechen häufiger gewesen wären als in andern Ländern. Freilich könnte uns wohl der Umstand täuschen, daß wir hier verhältnißmäßig weit mehr Specielles davon erfahren als irgend anderswo und daß dieselbe Phantasie, welche auf das thatsächliche Verbrechen wirkt, auch das nichtgeschehene ersinnt. Die Summe der Gewaltthaten war vielleicht anderswo dieselbe. Ob der Zustand z. B. in dem kraftvollen, reichen Deutschland um 1500, mit seinen kühnen Landstreichern, gewaltigen Bettlern und wegelagernden Rittern
1)Diarium Parmense, bei Murat. XXII, Col. 330 bis 349 passim.
Als das Herzogthum Mailand bereits um 1480 durch6. Abſchnitt. die innern Kriſen nach dem Tode des Galeazzo MariaAllgemeiner Frevelſinn. Sforza erſchüttert war, hörte in den Provinzialſtädten jede Sicherheit auf. So in Parma 1), wo der mailändiſche Gubernator, durch Mordanſchläge in Schrecken geſetzt, ſich die Freilaſſung furchtbarer Menſchen abdringen ließ, wo Einbrüche, Demolitionen von Häuſern, öffentliche Mord- thaten etwas Gewöhnliches wurden, wo zuerſt maskirte Verbrecher einzeln, dann ohne Scheu jede Nacht große be- waffnete Schaaren herumzogen; dabei circulirten frevelhafte Späße, Satiren, Drohbriefe und es erſchien ein Spott- ſonett gegen die Behörden, welches dieſelben offenbar mehr empörte als der entſetzliche Zuſtand ſelbſt. Daß in vielen Kirchen die Tabernakel ſammt den Hoſtien geraubt wurden, verräth noch eine beſondere Farbe und Richtung jener Ruch- loſigkeit. Nun iſt es wohl unmöglich zu errathen, was in jedem Lande der Welt auch heute geſchehen würde, wenn Regierung und Polizei ihre Thätigkeit einſtellten und den- noch durch ihr Daſein die Bildung eines proviſoriſchen Re- gimentes unmöglich machten, allein was damals in Italien bei ſolchen Anläſſen geſchah, trägt doch wohl einen beſondern Character durch ſtarke Einmiſchung der Rache.
Im Allgemeinen macht das Italien der Renaiſſance den Eindruck, als ob auch in gewöhnlichen Zeiten die gro- ßen Verbrechen häufiger geweſen wären als in andern Ländern. Freilich könnte uns wohl der Umſtand täuſchen, daß wir hier verhältnißmäßig weit mehr Specielles davon erfahren als irgend anderswo und daß dieſelbe Phantaſie, welche auf das thatſächliche Verbrechen wirkt, auch das nichtgeſchehene erſinnt. Die Summe der Gewaltthaten war vielleicht anderswo dieſelbe. Ob der Zuſtand z. B. in dem kraftvollen, reichen Deutſchland um 1500, mit ſeinen kühnen Landſtreichern, gewaltigen Bettlern und wegelagernden Rittern
1)Diarium Parmense, bei Murat. XXII, Col. 330 bis 349 passim.
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Als das Herzogthum Mailand bereits um 1480 durch
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Sforza erſchüttert war, hörte in den Provinzialſtädten jede
Sicherheit auf. So in Parma 1), wo der mailändiſche
Gubernator, durch Mordanſchläge in Schrecken geſetzt, ſich
die Freilaſſung furchtbarer Menſchen abdringen ließ, wo
Einbrüche, Demolitionen von Häuſern, öffentliche Mord-
thaten etwas Gewöhnliches wurden, wo zuerſt maskirte
Verbrecher einzeln, dann ohne Scheu jede Nacht große be-
waffnete Schaaren herumzogen; dabei circulirten frevelhafte
Späße, Satiren, Drohbriefe und es erſchien ein Spott-
ſonett gegen die Behörden, welches dieſelben offenbar mehr
empörte als der entſetzliche Zuſtand ſelbſt. Daß in vielen
Kirchen die Tabernakel ſammt den Hoſtien geraubt wurden,
verräth noch eine beſondere Farbe und Richtung jener Ruch-
loſigkeit. Nun iſt es wohl unmöglich zu errathen, was in
jedem Lande der Welt auch heute geſchehen würde, wenn
Regierung und Polizei ihre Thätigkeit einſtellten und den-
noch durch ihr Daſein die Bildung eines proviſoriſchen Re-
gimentes unmöglich machten, allein was damals in Italien
bei ſolchen Anläſſen geſchah, trägt doch wohl einen beſondern
Character durch ſtarke Einmiſchung der Rache.
6. Abſchnitt.
Allgemeiner
Frevelſinn.
Im Allgemeinen macht das Italien der Renaiſſance
den Eindruck, als ob auch in gewöhnlichen Zeiten die gro-
ßen Verbrechen häufiger geweſen wären als in andern
Ländern. Freilich könnte uns wohl der Umſtand täuſchen,
daß wir hier verhältnißmäßig weit mehr Specielles davon
erfahren als irgend anderswo und daß dieſelbe Phantaſie,
welche auf das thatſächliche Verbrechen wirkt, auch das
nichtgeſchehene erſinnt. Die Summe der Gewaltthaten war
vielleicht anderswo dieſelbe. Ob der Zuſtand z. B. in dem
kraftvollen, reichen Deutſchland um 1500, mit ſeinen kühnen
Landſtreichern, gewaltigen Bettlern und wegelagernden Rittern
1) Diarium Parmense, bei Murat. XXII, Col. 330 bis 349 passim.
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/457>, abgerufen am 28.11.2024.
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