welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung, der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter- lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat. Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus- setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver- haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest- zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende Tätigkeit.
Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs- norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine "Entscheidung" darüber entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor- liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden; nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die staatliche Behörde, kann es.
Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs- regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver- letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge- kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen. Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent- scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge- drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn- Satze mitgeteilt, z. B. "Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer gelöscht werden"; "Wenn jemand mehr als Fr. 1000. -- reines Vermögen hat, soll er es erklären". Das ist ein Zufall des Aus- druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden- sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung, der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter- lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat. Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus- setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver- haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest- zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende Tätigkeit.
Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs- norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine „Entscheidung“ darüber entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor- liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden; nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die staatliche Behörde, kann es.
Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs- regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver- letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge- kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen. Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent- scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge- drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn- Satze mitgeteilt, z. B. „Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer gelöscht werden“; „Wenn jemand mehr als Fr. 1000. — reines Vermögen hat, soll er es erklären“. Das ist ein Zufall des Aus- druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden- sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-
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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung,
der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter-
lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der
Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat.
Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden
hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus-
setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung
der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver-
haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege
bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs
Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest-
zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende
Tätigkeit.
Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs-
norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende
Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in
seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine „Entscheidung“ darüber
entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor-
liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das
ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden;
nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die
staatliche Behörde, kann es.
Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs-
regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer
Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver-
letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist
nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge-
kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen.
Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent-
scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge-
drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen
Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn-
Satze mitgeteilt, z. B. „Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer
gelöscht werden“; „Wenn jemand mehr als Fr. 1000. — reines
Vermögen hat, soll er es erklären“. Das ist ein Zufall des Aus-
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bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden-
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/317>, abgerufen am 16.07.2024.
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