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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Rechtsanwendung.

Ob diese Regel, daß die rechtsanwendende Anordnung dem
angewendeten Rechtssatz vorgeht, unbedingt gelten kann, ist
eine andere Frage. Die unbedingte Geltung entspricht der Folge-
richtigkeit des Systems: wenn eine bestimmte Behörde zuständig
ist, den Rechtssatz anzuwenden, muß auch alles, was sie anordnet,
verbindlich sein, ungeachtet aller materieller Einreden nicht-
zuständiger Privatpersonen. Aber soll wirklich jedes Urteil,
jede Verfügung, die sich auf das Gesetz beruft und von der zur
Anwendung dieses Gesetzes zuständigen Behörde in korrekter
Form ausgeht, verbindlich sein, auch wenn es kein vernünftiger
Mensch als die Anwendung dieses Gesetzes ansehen kann? Es ist
dieselbe Schwierigkeit, wie die der Verbindlichkeit der Gesetze.
Soll auch das ungerechteste Gesetz verbindlich sein und das zum
Unsinn gewordene, aber nicht aufgehobene Gesetz verbindlich
bleiben? Die Konsequenz der Zuständigkeitsordnung verlangt es,
aber der Sinn dieser selben Zuständigkeitsordnung (welcher ist,
die Rechtsidee zu verwirklichen) widerspricht ihm. Es ist der
Widerspruch, der der Positivierung der Rechtsidee selbst anhaftet
(vgl. oben S. 187 f.). Er wird praktisch z. B. in der Frage: ob auch
die Widerhandlung gegen gesetzwidrige Urteile oder Verfügungen
strafbar sei; ob die Vollstreckungsbehörde jedes formell korrekte
Urteil vollziehen; ob der Untergebene jeden Befehl seiner zustän-
digen Vorgesetzten im Zivil- und Militärdienst ausführen soll.

Die Rechtsanwendung, in ihrem eigentlichen Sinn (in dem sie
allein in systematischer Betrachtung verwertbar ist), bildet einen
begrifflichen Gegensatz zur Rechtssetzung, einen absoluten und
nicht nur einen relativen. Die rechtssetzende und die rechtsan-
wendende Anordnung sind begrifflich verschieden1. Die Rechts-
setzung ist ein Werturteil, die Rechtsanwendung nicht (S. 243).
Eine Anordnung kann nicht im Verhältnis zu einer Anordnung
Rechtsanwendung, im Verhältnis zu einer anderen Rechtssetzung
sein. Denn entweder schafft sie neues Recht, dann ist sie Rechts-
setzung, oder sie schafft nicht neues Recht, sondern wendet be-
stehendes an; dann ist sie Rechtsanwendung. Tertium non datur.

Darin unterscheidet sich dieser Gegensatz von einem anderen,

1 Carre de Malberg, Theorie I 751, 780, meint, jede staatliche
Funktion sei in gewissem Sinn entweder Rechtssetzung oder Vollziehung;
richtigerweise: Rechtssetzung, Rechtsanwendung oder Erzwingung.
Die Rechtsanwendung.

Ob diese Regel, daß die rechtsanwendende Anordnung dem
angewendeten Rechtssatz vorgeht, unbedingt gelten kann, ist
eine andere Frage. Die unbedingte Geltung entspricht der Folge-
richtigkeit des Systems: wenn eine bestimmte Behörde zuständig
ist, den Rechtssatz anzuwenden, muß auch alles, was sie anordnet,
verbindlich sein, ungeachtet aller materieller Einreden nicht-
zuständiger Privatpersonen. Aber soll wirklich jedes Urteil,
jede Verfügung, die sich auf das Gesetz beruft und von der zur
Anwendung dieses Gesetzes zuständigen Behörde in korrekter
Form ausgeht, verbindlich sein, auch wenn es kein vernünftiger
Mensch als die Anwendung dieses Gesetzes ansehen kann? Es ist
dieselbe Schwierigkeit, wie die der Verbindlichkeit der Gesetze.
Soll auch das ungerechteste Gesetz verbindlich sein und das zum
Unsinn gewordene, aber nicht aufgehobene Gesetz verbindlich
bleiben? Die Konsequenz der Zuständigkeitsordnung verlangt es,
aber der Sinn dieser selben Zuständigkeitsordnung (welcher ist,
die Rechtsidee zu verwirklichen) widerspricht ihm. Es ist der
Widerspruch, der der Positivierung der Rechtsidee selbst anhaftet
(vgl. oben S. 187 f.). Er wird praktisch z. B. in der Frage: ob auch
die Widerhandlung gegen gesetzwidrige Urteile oder Verfügungen
strafbar sei; ob die Vollstreckungsbehörde jedes formell korrekte
Urteil vollziehen; ob der Untergebene jeden Befehl seiner zustän-
digen Vorgesetzten im Zivil- und Militärdienst ausführen soll.

Die Rechtsanwendung, in ihrem eigentlichen Sinn (in dem sie
allein in systematischer Betrachtung verwertbar ist), bildet einen
begrifflichen Gegensatz zur Rechtssetzung, einen absoluten und
nicht nur einen relativen. Die rechtssetzende und die rechtsan-
wendende Anordnung sind begrifflich verschieden1. Die Rechts-
setzung ist ein Werturteil, die Rechtsanwendung nicht (S. 243).
Eine Anordnung kann nicht im Verhältnis zu einer Anordnung
Rechtsanwendung, im Verhältnis zu einer anderen Rechtssetzung
sein. Denn entweder schafft sie neues Recht, dann ist sie Rechts-
setzung, oder sie schafft nicht neues Recht, sondern wendet be-
stehendes an; dann ist sie Rechtsanwendung. Tertium non datur.

Darin unterscheidet sich dieser Gegensatz von einem anderen,

1 Carré de Malberg, Théorie I 751, 780, meint, jede staatliche
Funktion sei in gewissem Sinn entweder Rechtssetzung oder Vollziehung;
richtigerweise: Rechtssetzung, Rechtsanwendung oder Erzwingung.
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[263/0278] Die Rechtsanwendung. Ob diese Regel, daß die rechtsanwendende Anordnung dem angewendeten Rechtssatz vorgeht, unbedingt gelten kann, ist eine andere Frage. Die unbedingte Geltung entspricht der Folge- richtigkeit des Systems: wenn eine bestimmte Behörde zuständig ist, den Rechtssatz anzuwenden, muß auch alles, was sie anordnet, verbindlich sein, ungeachtet aller materieller Einreden nicht- zuständiger Privatpersonen. Aber soll wirklich jedes Urteil, jede Verfügung, die sich auf das Gesetz beruft und von der zur Anwendung dieses Gesetzes zuständigen Behörde in korrekter Form ausgeht, verbindlich sein, auch wenn es kein vernünftiger Mensch als die Anwendung dieses Gesetzes ansehen kann? Es ist dieselbe Schwierigkeit, wie die der Verbindlichkeit der Gesetze. Soll auch das ungerechteste Gesetz verbindlich sein und das zum Unsinn gewordene, aber nicht aufgehobene Gesetz verbindlich bleiben? Die Konsequenz der Zuständigkeitsordnung verlangt es, aber der Sinn dieser selben Zuständigkeitsordnung (welcher ist, die Rechtsidee zu verwirklichen) widerspricht ihm. Es ist der Widerspruch, der der Positivierung der Rechtsidee selbst anhaftet (vgl. oben S. 187 f.). Er wird praktisch z. B. in der Frage: ob auch die Widerhandlung gegen gesetzwidrige Urteile oder Verfügungen strafbar sei; ob die Vollstreckungsbehörde jedes formell korrekte Urteil vollziehen; ob der Untergebene jeden Befehl seiner zustän- digen Vorgesetzten im Zivil- und Militärdienst ausführen soll. Die Rechtsanwendung, in ihrem eigentlichen Sinn (in dem sie allein in systematischer Betrachtung verwertbar ist), bildet einen begrifflichen Gegensatz zur Rechtssetzung, einen absoluten und nicht nur einen relativen. Die rechtssetzende und die rechtsan- wendende Anordnung sind begrifflich verschieden 1. Die Rechts- setzung ist ein Werturteil, die Rechtsanwendung nicht (S. 243). Eine Anordnung kann nicht im Verhältnis zu einer Anordnung Rechtsanwendung, im Verhältnis zu einer anderen Rechtssetzung sein. Denn entweder schafft sie neues Recht, dann ist sie Rechts- setzung, oder sie schafft nicht neues Recht, sondern wendet be- stehendes an; dann ist sie Rechtsanwendung. Tertium non datur. Darin unterscheidet sich dieser Gegensatz von einem anderen, 1 Carré de Malberg, Théorie I 751, 780, meint, jede staatliche Funktion sei in gewissem Sinn entweder Rechtssetzung oder Vollziehung; richtigerweise: Rechtssetzung, Rechtsanwendung oder Erzwingung.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/278>, abgerufen am 24.11.2024.