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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
beamte nicht an die Vorschrift des Gesetzes gebunden seien; sie
sind daran gebunden, und können nur unter Berufung auf den
geltenden Rechtssatz ihre Entscheidung treffen. Aber wenn sie sie
(letztinstanzlich) getroffen haben, ist ihre Entscheidung verbindlich,
auch wenn sie dem Rechtssatz nicht entsprechen sollte, sei es, weil
der Rechtssatz falsch verstanden, sei es, weil die Tatsachen un-
richtig ermittelt worden sind. Die Entscheidung, wenn einmal
getroffen, muß dem Rechtssatz vorgehen, sonst hätte die Zu-
ständigkeit der entscheidenden Behörde, das Recht anzuwenden,
keinen Sinn. Denn wenn ihre Entscheidung, daß nach dem ab-
strakten Recht in concreto ein bestimmtes Verhalten geschuldet
wird, wegen Nichtübereinstimmung mit dem Gesetz wieder ange-
fochten werden könnte, müßte jeweilen eine andere Instanz darüber
entscheiden, und die verbindliche Anwendung des Rechts wäre
unmöglich. Man kann daher nicht, ohne die (verbindliche) Anwen-
dung des Rechts im Grundsatze aufzuheben, behaupten, nur die
dem Gesetze entsprechende Verfügung (für gerichtliche Entschei-
dungen behauptet man es nicht) sei verbindlich und habe An-
spruch auf Gehorsam1. Dadurch würde man den Rechtsuntertan
zum Richter über die Behörde machen2.

1 Vgl. z. B. Karl Brunner, Die Lehre vom Verwaltungszwang
(Zürich, Diss. 1923) 48.
2 Die Frage, das bedarf kaum der Erwähnung, ist nicht identisch mit
der Frage nach der materiellen Rechtskraft der gerichtlichen oder admini-
strativen Entscheidungen. Hier fragt es sich, ob die Behörde, welche ge-
urteilt oder verfügt hat, auf ihre Entscheidung wieder zurückkommen kann.
-- Diese eigentümliche Gebundenheit der Behörde an ihre Entscheidung
findet sich allerdings nur bei rechtsanwendenden Anordnungen, nicht bei
rechtssetzenden; aber sie findet sich nicht bei allen rechtsanwendenden An-
ordnungen. Sie findet sich stets bei Entscheidungen über private Rechte,
wegen der privatrechtlichen Natur des Gegenstandes (vgl. oben S. 61 ff.),
nicht aber notwendig bei der Anwendung des öffentlichen Rechts. Merkl,
Die Lehre von der Rechtskraft (1923), hat dieser Unterscheidung zwischen
Rechtssetzung und Rechtsanwendung, die er ablehnt, nicht Rechnung ge-
tragen und deshalb die Eigenart des Problems nicht erfaßt. -- Wir aber
fragen, ob eine endgültig getroffene Anordnung, solange sie formell besteht,
solange sie also von derselben (oder einer höheren) Behörde nicht wieder
aufgehoben worden ist, für den Privaten vorgängig dem Gesetze verbind-
lich, sei und das haben wir für die das Gesetz anwendende Anordnung
bejaht.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
beamte nicht an die Vorschrift des Gesetzes gebunden seien; sie
sind daran gebunden, und können nur unter Berufung auf den
geltenden Rechtssatz ihre Entscheidung treffen. Aber wenn sie sie
(letztinstanzlich) getroffen haben, ist ihre Entscheidung verbindlich,
auch wenn sie dem Rechtssatz nicht entsprechen sollte, sei es, weil
der Rechtssatz falsch verstanden, sei es, weil die Tatsachen un-
richtig ermittelt worden sind. Die Entscheidung, wenn einmal
getroffen, muß dem Rechtssatz vorgehen, sonst hätte die Zu-
ständigkeit der entscheidenden Behörde, das Recht anzuwenden,
keinen Sinn. Denn wenn ihre Entscheidung, daß nach dem ab-
strakten Recht in concreto ein bestimmtes Verhalten geschuldet
wird, wegen Nichtübereinstimmung mit dem Gesetz wieder ange-
fochten werden könnte, müßte jeweilen eine andere Instanz darüber
entscheiden, und die verbindliche Anwendung des Rechts wäre
unmöglich. Man kann daher nicht, ohne die (verbindliche) Anwen-
dung des Rechts im Grundsatze aufzuheben, behaupten, nur die
dem Gesetze entsprechende Verfügung (für gerichtliche Entschei-
dungen behauptet man es nicht) sei verbindlich und habe An-
spruch auf Gehorsam1. Dadurch würde man den Rechtsuntertan
zum Richter über die Behörde machen2.

1 Vgl. z. B. Karl Brunner, Die Lehre vom Verwaltungszwang
(Zürich, Diss. 1923) 48.
2 Die Frage, das bedarf kaum der Erwähnung, ist nicht identisch mit
der Frage nach der materiellen Rechtskraft der gerichtlichen oder admini-
strativen Entscheidungen. Hier fragt es sich, ob die Behörde, welche ge-
urteilt oder verfügt hat, auf ihre Entscheidung wieder zurückkommen kann.
— Diese eigentümliche Gebundenheit der Behörde an ihre Entscheidung
findet sich allerdings nur bei rechtsanwendenden Anordnungen, nicht bei
rechtssetzenden; aber sie findet sich nicht bei allen rechtsanwendenden An-
ordnungen. Sie findet sich stets bei Entscheidungen über private Rechte,
wegen der privatrechtlichen Natur des Gegenstandes (vgl. oben S. 61 ff.),
nicht aber notwendig bei der Anwendung des öffentlichen Rechts. Merkl,
Die Lehre von der Rechtskraft (1923), hat dieser Unterscheidung zwischen
Rechtssetzung und Rechtsanwendung, die er ablehnt, nicht Rechnung ge-
tragen und deshalb die Eigenart des Problems nicht erfaßt. — Wir aber
fragen, ob eine endgültig getroffene Anordnung, solange sie formell besteht,
solange sie also von derselben (oder einer höheren) Behörde nicht wieder
aufgehoben worden ist, für den Privaten vorgängig dem Gesetze verbind-
lich, sei und das haben wir für die das Gesetz anwendende Anordnung
bejaht.
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[262/0277] II. Teil. Die staatliche Verfassung. beamte nicht an die Vorschrift des Gesetzes gebunden seien; sie sind daran gebunden, und können nur unter Berufung auf den geltenden Rechtssatz ihre Entscheidung treffen. Aber wenn sie sie (letztinstanzlich) getroffen haben, ist ihre Entscheidung verbindlich, auch wenn sie dem Rechtssatz nicht entsprechen sollte, sei es, weil der Rechtssatz falsch verstanden, sei es, weil die Tatsachen un- richtig ermittelt worden sind. Die Entscheidung, wenn einmal getroffen, muß dem Rechtssatz vorgehen, sonst hätte die Zu- ständigkeit der entscheidenden Behörde, das Recht anzuwenden, keinen Sinn. Denn wenn ihre Entscheidung, daß nach dem ab- strakten Recht in concreto ein bestimmtes Verhalten geschuldet wird, wegen Nichtübereinstimmung mit dem Gesetz wieder ange- fochten werden könnte, müßte jeweilen eine andere Instanz darüber entscheiden, und die verbindliche Anwendung des Rechts wäre unmöglich. Man kann daher nicht, ohne die (verbindliche) Anwen- dung des Rechts im Grundsatze aufzuheben, behaupten, nur die dem Gesetze entsprechende Verfügung (für gerichtliche Entschei- dungen behauptet man es nicht) sei verbindlich und habe An- spruch auf Gehorsam 1. Dadurch würde man den Rechtsuntertan zum Richter über die Behörde machen 2. 1 Vgl. z. B. Karl Brunner, Die Lehre vom Verwaltungszwang (Zürich, Diss. 1923) 48. 2 Die Frage, das bedarf kaum der Erwähnung, ist nicht identisch mit der Frage nach der materiellen Rechtskraft der gerichtlichen oder admini- strativen Entscheidungen. Hier fragt es sich, ob die Behörde, welche ge- urteilt oder verfügt hat, auf ihre Entscheidung wieder zurückkommen kann. — Diese eigentümliche Gebundenheit der Behörde an ihre Entscheidung findet sich allerdings nur bei rechtsanwendenden Anordnungen, nicht bei rechtssetzenden; aber sie findet sich nicht bei allen rechtsanwendenden An- ordnungen. Sie findet sich stets bei Entscheidungen über private Rechte, wegen der privatrechtlichen Natur des Gegenstandes (vgl. oben S. 61 ff.), nicht aber notwendig bei der Anwendung des öffentlichen Rechts. Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft (1923), hat dieser Unterscheidung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung, die er ablehnt, nicht Rechnung ge- tragen und deshalb die Eigenart des Problems nicht erfaßt. — Wir aber fragen, ob eine endgültig getroffene Anordnung, solange sie formell besteht, solange sie also von derselben (oder einer höheren) Behörde nicht wieder aufgehoben worden ist, für den Privaten vorgängig dem Gesetze verbind- lich, sei und das haben wir für die das Gesetz anwendende Anordnung bejaht.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/277>, abgerufen am 24.11.2024.