Aber es ist abhängig von der Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen das betreffende Recht gelten sollte. Wie eine Vorschrift als Recht betrachtet und geübt werden konnte, ist allerdings keine historische Betrachtung, sondern eine rationelle; aber um sie anstellen zu können, muß man die Um- stände kennen, für welche die Vorschrift gelten sollte. Das strenge Verbot des Feuers bei Föhnwetter erklärt sich, wenn man weiß, daß der Föhn sehr heftig bläst, daß die Häuser aus Holz sind und nahe beieinander stehen; die Verstaatlichung der Wasserkräfte erklärt sich, wenn man die heutige Technik der Nutzbarmachung der Gewässer kennt; beide Vorschriften erweisen sich unter den gegebenen Umständen als vernünftig.
Und das ist stets die Frage, die auch die Rechtsgeschichte sich stellt: wie konnte diese oder jene Einrichtung rechtens sein? Um sie zu beantworten, muß der Rechtshistoriker die tat- sächlichen Zustände jener Zeit erforschen; er muß insofern den Tatsachen nachspüren; aber wenn er sie in Erfahrung gebracht hat, wird er sich stets fragen müssen: erklärt sich (vor dem Forum der Vernunft) angesichts dieser Gegebenheiten die damalige Ordnung als eine gerechte, vernünftige Ordnung, oder unter dem Einfluß welcher Vorstellungen konnte man sie sich als ge- recht denken. Jene tatsächlichen Nachforschungen werden also immer bestimmt durch die vernünftige Erwägung dessen, was als Recht (d. h. hier als gerecht) angesehen werden kann. Das Ver- nünftige entsteht nicht aus Tatsachen, aber es erklärt sich mit Hilfe von Tatsachen. Das Recht ist immer mit den gleichzeitig ge- gebenen Zuständen und Tatsachen in Verbindung zu bringen, um als das erklärt werden zu können, was es sein will: der Ausdruck des Gerechten. Und, wenn der Rechtshistoriker die rationelle Er- klärung nicht findet, wenn ihm das Recht als unbegründet erscheint, wird er sich weiter fragen, warum diesem Recht die Macht ge- liehen wurde, was nun eine tatsächliche (psychologische) Frage ist; aber es ist jetzt die Frage: wieso dem an sich Unbegründeten, rationell nicht Erklärbaren die Unterstützung der Macht trotz- dem tatsächlich geliehen wurde.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Aber es ist abhängig von der Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen das betreffende Recht gelten sollte. Wie eine Vorschrift als Recht betrachtet und geübt werden konnte, ist allerdings keine historische Betrachtung, sondern eine rationelle; aber um sie anstellen zu können, muß man die Um- stände kennen, für welche die Vorschrift gelten sollte. Das strenge Verbot des Feuers bei Föhnwetter erklärt sich, wenn man weiß, daß der Föhn sehr heftig bläst, daß die Häuser aus Holz sind und nahe beieinander stehen; die Verstaatlichung der Wasserkräfte erklärt sich, wenn man die heutige Technik der Nutzbarmachung der Gewässer kennt; beide Vorschriften erweisen sich unter den gegebenen Umständen als vernünftig.
Und das ist stets die Frage, die auch die Rechtsgeschichte sich stellt: wie konnte diese oder jene Einrichtung rechtens sein? Um sie zu beantworten, muß der Rechtshistoriker die tat- sächlichen Zustände jener Zeit erforschen; er muß insofern den Tatsachen nachspüren; aber wenn er sie in Erfahrung gebracht hat, wird er sich stets fragen müssen: erklärt sich (vor dem Forum der Vernunft) angesichts dieser Gegebenheiten die damalige Ordnung als eine gerechte, vernünftige Ordnung, oder unter dem Einfluß welcher Vorstellungen konnte man sie sich als ge- recht denken. Jene tatsächlichen Nachforschungen werden also immer bestimmt durch die vernünftige Erwägung dessen, was als Recht (d. h. hier als gerecht) angesehen werden kann. Das Ver- nünftige entsteht nicht aus Tatsachen, aber es erklärt sich mit Hilfe von Tatsachen. Das Recht ist immer mit den gleichzeitig ge- gebenen Zuständen und Tatsachen in Verbindung zu bringen, um als das erklärt werden zu können, was es sein will: der Ausdruck des Gerechten. Und, wenn der Rechtshistoriker die rationelle Er- klärung nicht findet, wenn ihm das Recht als unbegründet erscheint, wird er sich weiter fragen, warum diesem Recht die Macht ge- liehen wurde, was nun eine tatsächliche (psychologische) Frage ist; aber es ist jetzt die Frage: wieso dem an sich Unbegründeten, rationell nicht Erklärbaren die Unterstützung der Macht trotz- dem tatsächlich geliehen wurde.
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[204/0219]
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Aber es ist abhängig von der Kenntnis der tatsächlichen
Voraussetzungen, unter denen das betreffende Recht gelten
sollte. Wie eine Vorschrift als Recht betrachtet und geübt werden
konnte, ist allerdings keine historische Betrachtung, sondern eine
rationelle; aber um sie anstellen zu können, muß man die Um-
stände kennen, für welche die Vorschrift gelten sollte. Das strenge
Verbot des Feuers bei Föhnwetter erklärt sich, wenn man weiß,
daß der Föhn sehr heftig bläst, daß die Häuser aus Holz sind und
nahe beieinander stehen; die Verstaatlichung der Wasserkräfte
erklärt sich, wenn man die heutige Technik der Nutzbarmachung
der Gewässer kennt; beide Vorschriften erweisen sich unter den
gegebenen Umständen als vernünftig.
Und das ist stets die Frage, die auch die Rechtsgeschichte
sich stellt: wie konnte diese oder jene Einrichtung rechtens
sein? Um sie zu beantworten, muß der Rechtshistoriker die tat-
sächlichen Zustände jener Zeit erforschen; er muß insofern den
Tatsachen nachspüren; aber wenn er sie in Erfahrung gebracht
hat, wird er sich stets fragen müssen: erklärt sich (vor dem Forum
der Vernunft) angesichts dieser Gegebenheiten die damalige
Ordnung als eine gerechte, vernünftige Ordnung, oder unter
dem Einfluß welcher Vorstellungen konnte man sie sich als ge-
recht denken. Jene tatsächlichen Nachforschungen werden also
immer bestimmt durch die vernünftige Erwägung dessen, was als
Recht (d. h. hier als gerecht) angesehen werden kann. Das Ver-
nünftige entsteht nicht aus Tatsachen, aber es erklärt sich mit Hilfe
von Tatsachen. Das Recht ist immer mit den gleichzeitig ge-
gebenen Zuständen und Tatsachen in Verbindung zu bringen, um
als das erklärt werden zu können, was es sein will: der Ausdruck
des Gerechten. Und, wenn der Rechtshistoriker die rationelle Er-
klärung nicht findet, wenn ihm das Recht als unbegründet erscheint,
wird er sich weiter fragen, warum diesem Recht die Macht ge-
liehen wurde, was nun eine tatsächliche (psychologische) Frage
ist; aber es ist jetzt die Frage: wieso dem an sich Unbegründeten,
rationell nicht Erklärbaren die Unterstützung der Macht trotz-
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/219>, abgerufen am 24.11.2024.
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