ausschließlichen oder nicht ausschließlichen Geltung des Ge- setzes1.
Da sich nun nach der Verfassung letztlich entscheidet, welches Recht im Staate gelten solle, geübtes wie gesetztes Recht, ist die Grundfrage die nach der Geltung der Verfassung; vom Ver- fassungsrecht hängt alles andere staatliche Recht ab. Was also als geltendes Verfassungsrecht zu betrachten ist, ist die erste Frage.
Für die völkerrechtliche Ordnung allerdings ist diese Frage nicht grundlegend. Das Völkerrecht setzt zwar (logisch) voraus, daß verschiedene Verfassungen gelten und damit verschiedene Staaten bestehen; aber es bestimmt nicht, welche Verfassungen zu gelten haben (wie noch zu zeigen sein wird [S. 354 ff]), noch po- stuliert es (praktisch), daß sie gelten. Die völkerrechtliche Frage ist vielmehr die: vorausgesetzt, daß mehrere Verfassungen und Staaten gelten, wie kann man sich die Ordnung unter diesen mehreren Staaten als rechtlich denken; oder (da auch hier eine rechtliche Ordnung allein denkbar ist) welche rechtliche Ordnung, welche Rechtssätze hat man sich als die geltenden, die verbindlichen zu denken. Unsere Frage ist allgemeiner als die Frage nach der Geltung des Verfassungsrechtes, die noch be- sonders untersucht werden soll (S. 205 ff.); aber sie hat mit ihr gemeinsam das Problem nach der Geltung des Rechts über- haupt. Denn wir können uns die Geltung des Verfassungsrechts und des Völkerrechts nur so denken, wie wir uns die Geltung des Rechts überhaupt denken können. Diese Frage ist also zunächst in ihrer Allgemeinheit zu untersuchen: Nachher werden sich die Anwendungen auf das Verfassungsrecht, das Gewohnheitsrecht und das Völkerrecht leicht ergeben.
Wir nannten oben (S. 166) Geltung die Tatsache, daß eine Rechtsordnung (oder ein Rechtssatz) unter Ausschluß aller anderen (widersprechenden) befolgt werden muß. Das ist eine Nominal- definition; sie gibt uns zwar die praktische Bedeutung des Begriffes an: die Bestimmung des zu befolgenden Rechtes; aber sie gibt uns keine Antwort darauf, was denn als geltendes und zu befolgendes
1 Was grundsätzlich auch Puchta, Gewohnheitsrecht II 202, Zitel- mann a. a. O. und andere anerkennen.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
ausschließlichen oder nicht ausschließlichen Geltung des Ge- setzes1.
Da sich nun nach der Verfassung letztlich entscheidet, welches Recht im Staate gelten solle, geübtes wie gesetztes Recht, ist die Grundfrage die nach der Geltung der Verfassung; vom Ver- fassungsrecht hängt alles andere staatliche Recht ab. Was also als geltendes Verfassungsrecht zu betrachten ist, ist die erste Frage.
Für die völkerrechtliche Ordnung allerdings ist diese Frage nicht grundlegend. Das Völkerrecht setzt zwar (logisch) voraus, daß verschiedene Verfassungen gelten und damit verschiedene Staaten bestehen; aber es bestimmt nicht, welche Verfassungen zu gelten haben (wie noch zu zeigen sein wird [S. 354 ff]), noch po- stuliert es (praktisch), daß sie gelten. Die völkerrechtliche Frage ist vielmehr die: vorausgesetzt, daß mehrere Verfassungen und Staaten gelten, wie kann man sich die Ordnung unter diesen mehreren Staaten als rechtlich denken; oder (da auch hier eine rechtliche Ordnung allein denkbar ist) welche rechtliche Ordnung, welche Rechtssätze hat man sich als die geltenden, die verbindlichen zu denken. Unsere Frage ist allgemeiner als die Frage nach der Geltung des Verfassungsrechtes, die noch be- sonders untersucht werden soll (S. 205 ff.); aber sie hat mit ihr gemeinsam das Problem nach der Geltung des Rechts über- haupt. Denn wir können uns die Geltung des Verfassungsrechts und des Völkerrechts nur so denken, wie wir uns die Geltung des Rechts überhaupt denken können. Diese Frage ist also zunächst in ihrer Allgemeinheit zu untersuchen: Nachher werden sich die Anwendungen auf das Verfassungsrecht, das Gewohnheitsrecht und das Völkerrecht leicht ergeben.
Wir nannten oben (S. 166) Geltung die Tatsache, daß eine Rechtsordnung (oder ein Rechtssatz) unter Ausschluß aller anderen (widersprechenden) befolgt werden muß. Das ist eine Nominal- definition; sie gibt uns zwar die praktische Bedeutung des Begriffes an: die Bestimmung des zu befolgenden Rechtes; aber sie gibt uns keine Antwort darauf, was denn als geltendes und zu befolgendes
1 Was grundsätzlich auch Puchta, Gewohnheitsrecht II 202, Zitel- mann a. a. O. und andere anerkennen.
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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
ausschließlichen oder nicht ausschließlichen Geltung des Ge-
setzes 1.
Da sich nun nach der Verfassung letztlich entscheidet, welches
Recht im Staate gelten solle, geübtes wie gesetztes Recht, ist
die Grundfrage die nach der Geltung der Verfassung; vom Ver-
fassungsrecht hängt alles andere staatliche Recht ab. Was also
als geltendes Verfassungsrecht zu betrachten ist, ist die erste
Frage.
Für die völkerrechtliche Ordnung allerdings ist diese Frage
nicht grundlegend. Das Völkerrecht setzt zwar (logisch) voraus,
daß verschiedene Verfassungen gelten und damit verschiedene
Staaten bestehen; aber es bestimmt nicht, welche Verfassungen
zu gelten haben (wie noch zu zeigen sein wird [S. 354 ff]), noch po-
stuliert es (praktisch), daß sie gelten. Die völkerrechtliche Frage
ist vielmehr die: vorausgesetzt, daß mehrere Verfassungen und
Staaten gelten, wie kann man sich die Ordnung unter diesen
mehreren Staaten als rechtlich denken; oder (da auch hier eine
rechtliche Ordnung allein denkbar ist) welche rechtliche
Ordnung, welche Rechtssätze hat man sich als die geltenden,
die verbindlichen zu denken. Unsere Frage ist allgemeiner als die
Frage nach der Geltung des Verfassungsrechtes, die noch be-
sonders untersucht werden soll (S. 205 ff.); aber sie hat mit
ihr gemeinsam das Problem nach der Geltung des Rechts über-
haupt. Denn wir können uns die Geltung des Verfassungsrechts
und des Völkerrechts nur so denken, wie wir uns die Geltung des
Rechts überhaupt denken können. Diese Frage ist also zunächst in
ihrer Allgemeinheit zu untersuchen: Nachher werden sich die
Anwendungen auf das Verfassungsrecht, das Gewohnheitsrecht
und das Völkerrecht leicht ergeben.
Wir nannten oben (S. 166) Geltung die Tatsache, daß eine
Rechtsordnung (oder ein Rechtssatz) unter Ausschluß aller anderen
(widersprechenden) befolgt werden muß. Das ist eine Nominal-
definition; sie gibt uns zwar die praktische Bedeutung des Begriffes
an: die Bestimmung des zu befolgenden Rechtes; aber sie gibt uns
keine Antwort darauf, was denn als geltendes und zu befolgendes
1 Was grundsätzlich auch Puchta, Gewohnheitsrecht II 202, Zitel-
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/185>, abgerufen am 25.11.2024.
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