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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.

Geltung nennen wir die Tatsache, daß eine Rechtsordnung
(oder Rechtsnorm) unter Ausschluß aller anderen in einer bestimm-
ten menschlichen Gruppe ihren Anspruch auf Gehorsam durch-
setzt. Was gilt, muß (zwangsweise) befolgt werden: das ist Rechts-
pflicht. Was nicht gilt, braucht nicht befolgt zu werden; ist jeden-
falls keine Rechtspflicht. Darin liegt die praktische Bedeutung
des Problems der Geltung: in der Entscheidung darüber, welche
Rechtsnormen, welche Rechtsordnung in jedem Lande bei Ver-
meidung des Zwanges befolgt werden müssen1.

Aber ist das denn wirklich fraglich? Weiß in der Schweiz
z. B. nicht jedermann, daß das Zivilgesetzbuch und alle die Ge-
setze, die in der eidgenössischen oder kantonalen Gesetzessamm-
lung stehen, gelten? Daß Kantons- und Bundesverfassung gelten?
Und ebenso in anderen Staaten. Was braucht es noch des Beweises?
Wozu die Grübelei?

Die Frage wird allerdings für das gesetzte Recht eines Staates
nicht so oft akut. Wer anerkennt, daß die gesetzgebende Behörde
(Parlament mit Volk oder Staatsoberhaupt) zuständig ist, allge-
meinverbindliche Normen aufzustellen, wird auch nicht bestreiten,

1 Ihre Bedeutung liegt also nicht sowohl darin, daß die geltende
Rechtsordnung den Einzelnen auch wirklich verpflichtet; das hängt von der
Einsicht des Einzelnen und von der Güte der Rechtsordnung ab; verpflichtet
wird sich nur derjenige fühlen, der die Notwendigkeit einer Rechtsordnung
überhaupt und gerade dieser Rechtsordnung einsieht. Der also einsieht,
daß die tatsächlich geltende Rechtsordnung Anspruch auf Geltung hat.
Darin hat Binder, Philosophie des Rechts 768 ,recht. Daß diese Rechts-
ordnung aber tatsächlich gilt, ist davon unabhängig; es hängt von dem
tatsächlichen Umstande ihrer zwangsweisen Durchsetzung ab. Vgl. E. Cas-
sirer,
Natur- und Völkerrecht (1919) 270. -- Stammler, Theorie 114 ff.,
nennt positiv das formulierte Recht, d. h. das in Rechtssätze gebrachte
Recht. (Vgl. unten S. 240.) Um in unserem Sinne gelten zu können, muß
das Recht allerdings in anwendbaren Rechtssätzen Ausdruck gefunden
haben; eine Rechtsordnung, die nur in der Verweisung auf das was recht
und billig ist, bestünde, könnte nicht gelten, weil man nicht wüßte, was
damit verbindlich gemacht sein soll. Aber die logische Form des Rechts-
satzes, so notwendig sie für die Geltung des Rechts ist, ist doch nicht die
Geltung selbst. Eine Rechtsordnung kann bis ins einzelne in Rechtssätze
gebracht worden sein und doch nicht gelten. "Positiv" ist der Gegensatz
des geltenden Rechts zur Rechtsidee; "geltend" der Gegensatz zu einer
anderen "ausgebildeten" Rechtsordnung, die gegenwärtig nicht erzwungen
werden kann. Binder a. a. O. 762.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.

Geltung nennen wir die Tatsache, daß eine Rechtsordnung
(oder Rechtsnorm) unter Ausschluß aller anderen in einer bestimm-
ten menschlichen Gruppe ihren Anspruch auf Gehorsam durch-
setzt. Was gilt, muß (zwangsweise) befolgt werden: das ist Rechts-
pflicht. Was nicht gilt, braucht nicht befolgt zu werden; ist jeden-
falls keine Rechtspflicht. Darin liegt die praktische Bedeutung
des Problems der Geltung: in der Entscheidung darüber, welche
Rechtsnormen, welche Rechtsordnung in jedem Lande bei Ver-
meidung des Zwanges befolgt werden müssen1.

Aber ist das denn wirklich fraglich? Weiß in der Schweiz
z. B. nicht jedermann, daß das Zivilgesetzbuch und alle die Ge-
setze, die in der eidgenössischen oder kantonalen Gesetzessamm-
lung stehen, gelten? Daß Kantons- und Bundesverfassung gelten?
Und ebenso in anderen Staaten. Was braucht es noch des Beweises?
Wozu die Grübelei?

Die Frage wird allerdings für das gesetzte Recht eines Staates
nicht so oft akut. Wer anerkennt, daß die gesetzgebende Behörde
(Parlament mit Volk oder Staatsoberhaupt) zuständig ist, allge-
meinverbindliche Normen aufzustellen, wird auch nicht bestreiten,

1 Ihre Bedeutung liegt also nicht sowohl darin, daß die geltende
Rechtsordnung den Einzelnen auch wirklich verpflichtet; das hängt von der
Einsicht des Einzelnen und von der Güte der Rechtsordnung ab; verpflichtet
wird sich nur derjenige fühlen, der die Notwendigkeit einer Rechtsordnung
überhaupt und gerade dieser Rechtsordnung einsieht. Der also einsieht,
daß die tatsächlich geltende Rechtsordnung Anspruch auf Geltung hat.
Darin hat Binder, Philosophie des Rechts 768 ,recht. Daß diese Rechts-
ordnung aber tatsächlich gilt, ist davon unabhängig; es hängt von dem
tatsächlichen Umstande ihrer zwangsweisen Durchsetzung ab. Vgl. E. Cas-
sirer,
Natur- und Völkerrecht (1919) 270. — Stammler, Theorie 114 ff.,
nennt positiv das formulierte Recht, d. h. das in Rechtssätze gebrachte
Recht. (Vgl. unten S. 240.) Um in unserem Sinne gelten zu können, muß
das Recht allerdings in anwendbaren Rechtssätzen Ausdruck gefunden
haben; eine Rechtsordnung, die nur in der Verweisung auf das was recht
und billig ist, bestünde, könnte nicht gelten, weil man nicht wüßte, was
damit verbindlich gemacht sein soll. Aber die logische Form des Rechts-
satzes, so notwendig sie für die Geltung des Rechts ist, ist doch nicht die
Geltung selbst. Eine Rechtsordnung kann bis ins einzelne in Rechtssätze
gebracht worden sein und doch nicht gelten. „Positiv“ ist der Gegensatz
des geltenden Rechts zur Rechtsidee; „geltend“ der Gegensatz zu einer
anderen „ausgebildeten“ Rechtsordnung, die gegenwärtig nicht erzwungen
werden kann. Binder a. a. O. 762.
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[166/0181] II. Teil. Die staatliche Verfassung. Geltung nennen wir die Tatsache, daß eine Rechtsordnung (oder Rechtsnorm) unter Ausschluß aller anderen in einer bestimm- ten menschlichen Gruppe ihren Anspruch auf Gehorsam durch- setzt. Was gilt, muß (zwangsweise) befolgt werden: das ist Rechts- pflicht. Was nicht gilt, braucht nicht befolgt zu werden; ist jeden- falls keine Rechtspflicht. Darin liegt die praktische Bedeutung des Problems der Geltung: in der Entscheidung darüber, welche Rechtsnormen, welche Rechtsordnung in jedem Lande bei Ver- meidung des Zwanges befolgt werden müssen 1. Aber ist das denn wirklich fraglich? Weiß in der Schweiz z. B. nicht jedermann, daß das Zivilgesetzbuch und alle die Ge- setze, die in der eidgenössischen oder kantonalen Gesetzessamm- lung stehen, gelten? Daß Kantons- und Bundesverfassung gelten? Und ebenso in anderen Staaten. Was braucht es noch des Beweises? Wozu die Grübelei? Die Frage wird allerdings für das gesetzte Recht eines Staates nicht so oft akut. Wer anerkennt, daß die gesetzgebende Behörde (Parlament mit Volk oder Staatsoberhaupt) zuständig ist, allge- meinverbindliche Normen aufzustellen, wird auch nicht bestreiten, 1 Ihre Bedeutung liegt also nicht sowohl darin, daß die geltende Rechtsordnung den Einzelnen auch wirklich verpflichtet; das hängt von der Einsicht des Einzelnen und von der Güte der Rechtsordnung ab; verpflichtet wird sich nur derjenige fühlen, der die Notwendigkeit einer Rechtsordnung überhaupt und gerade dieser Rechtsordnung einsieht. Der also einsieht, daß die tatsächlich geltende Rechtsordnung Anspruch auf Geltung hat. Darin hat Binder, Philosophie des Rechts 768 ,recht. Daß diese Rechts- ordnung aber tatsächlich gilt, ist davon unabhängig; es hängt von dem tatsächlichen Umstande ihrer zwangsweisen Durchsetzung ab. Vgl. E. Cas- sirer, Natur- und Völkerrecht (1919) 270. — Stammler, Theorie 114 ff., nennt positiv das formulierte Recht, d. h. das in Rechtssätze gebrachte Recht. (Vgl. unten S. 240.) Um in unserem Sinne gelten zu können, muß das Recht allerdings in anwendbaren Rechtssätzen Ausdruck gefunden haben; eine Rechtsordnung, die nur in der Verweisung auf das was recht und billig ist, bestünde, könnte nicht gelten, weil man nicht wüßte, was damit verbindlich gemacht sein soll. Aber die logische Form des Rechts- satzes, so notwendig sie für die Geltung des Rechts ist, ist doch nicht die Geltung selbst. Eine Rechtsordnung kann bis ins einzelne in Rechtssätze gebracht worden sein und doch nicht gelten. „Positiv“ ist der Gegensatz des geltenden Rechts zur Rechtsidee; „geltend“ der Gegensatz zu einer anderen „ausgebildeten“ Rechtsordnung, die gegenwärtig nicht erzwungen werden kann. Binder a. a. O. 762.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/181>, abgerufen am 26.11.2024.