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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
wöhnlich zum Privatrecht zählt), sondern auch die Normen,
welche zwingende Verbote oder Gebote aussprechen, mit der
Rechtsfolge des unmittelbaren Zwanges oder der Strafe, wie die
polizeilichen und anderen gewöhnlich dem öffentlichen Recht zu-
gezählten Vorschriften. Beide sind in unserem Sinne öffentlich-
rechtlich, weil zwingend, und beide bilden gegebenenfalls die
Grenzen der rechtsgeschäftlichen Autonomie. Wenn z. B. ein
Baugesetz den Bau von Wohnungen von weniger als drei Meter
Höhe verbietet, wird auch der Werkvertrag, der den Bau solcher
Wohnungen zum Gegenstand hat, ungültig sein. Wer über den
Zeitpunkt der Wirksamkeit des öffentlich-rechtlichen Satzes ent-
scheidet, entscheidet damit auch über die Gültigkeit der Rechts-
geschäfte, die dagegen verstoßen. Man kann nicht das Baugesetz
sofort und uneingeschränkt in Kraft setzen und die Verträge,
durch welche gesetzwidrige Wohnungen gebaut (oder vermietet)
werden, weiter gelten lassen; man kann das Wohnverbot nicht
sofort und schrankenlos durchführen, ohne bestehende Verträge
und Eigentumsbefugnisse, d. h. privatrechtliche Verhältnisse, zu
verletzen. Wenn ein neues Gesetz gewisse Versicherungsarten
dem Staate vorbehält, z. B. Die Versicherung des Mobiliars gegen
Feuerschaden, frägt es sich, ob die bestehenden Verträge erlöschen
sollen und mit welcher Wirkung, oder ob sie bis zum Ende der
Vertragsdauer gültig bleiben sollen.

Das ist die Frage der eigentlichen Rückwirkung.

Hievon zu unterscheiden sind die Fälle, wo das neue Recht
nicht mit bestehenden bereits begründeten Rechtsverhältnissen
in Konflikt gerät, sondern nur mit der Möglichkeit, solche zu be-
gründen. Wenn z. B. ein neues Gesetz die Ausübung des Ärzte-
berufes an die Bedingung einer wissenschaftlichen Prüfung und
einer obrigkeitlichen Bewilligung knüpft, so frägt es sich nicht
sowohl, ob die Verträge, durch die ein nicht geprüfter Arzt vor
dem Erlaß des Gesetzes die Behandlung gewisser Personen über-
nommen hatte, noch gültig bleiben, als ob die Ärzte, die schon
vor dem neuen Gesetz praktiziert hatten, ohne Prüfung weiter
praktizieren dürfen; ob sie also in Zukunft weiter die Verträge
schließen dürfen, in die sich die Ausübung des ärztlichen Berufes
kleidet. Das ist hier die praktisch allein bedeutsame Frage. Sie
bezieht sich zwar auch auf das Verhältnis des neuen Rechts zum

I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
wöhnlich zum Privatrecht zählt), sondern auch die Normen,
welche zwingende Verbote oder Gebote aussprechen, mit der
Rechtsfolge des unmittelbaren Zwanges oder der Strafe, wie die
polizeilichen und anderen gewöhnlich dem öffentlichen Recht zu-
gezählten Vorschriften. Beide sind in unserem Sinne öffentlich-
rechtlich, weil zwingend, und beide bilden gegebenenfalls die
Grenzen der rechtsgeschäftlichen Autonomie. Wenn z. B. ein
Baugesetz den Bau von Wohnungen von weniger als drei Meter
Höhe verbietet, wird auch der Werkvertrag, der den Bau solcher
Wohnungen zum Gegenstand hat, ungültig sein. Wer über den
Zeitpunkt der Wirksamkeit des öffentlich-rechtlichen Satzes ent-
scheidet, entscheidet damit auch über die Gültigkeit der Rechts-
geschäfte, die dagegen verstoßen. Man kann nicht das Baugesetz
sofort und uneingeschränkt in Kraft setzen und die Verträge,
durch welche gesetzwidrige Wohnungen gebaut (oder vermietet)
werden, weiter gelten lassen; man kann das Wohnverbot nicht
sofort und schrankenlos durchführen, ohne bestehende Verträge
und Eigentumsbefugnisse, d. h. privatrechtliche Verhältnisse, zu
verletzen. Wenn ein neues Gesetz gewisse Versicherungsarten
dem Staate vorbehält, z. B. Die Versicherung des Mobiliars gegen
Feuerschaden, frägt es sich, ob die bestehenden Verträge erlöschen
sollen und mit welcher Wirkung, oder ob sie bis zum Ende der
Vertragsdauer gültig bleiben sollen.

Das ist die Frage der eigentlichen Rückwirkung.

Hievon zu unterscheiden sind die Fälle, wo das neue Recht
nicht mit bestehenden bereits begründeten Rechtsverhältnissen
in Konflikt gerät, sondern nur mit der Möglichkeit, solche zu be-
gründen. Wenn z. B. ein neues Gesetz die Ausübung des Ärzte-
berufes an die Bedingung einer wissenschaftlichen Prüfung und
einer obrigkeitlichen Bewilligung knüpft, so frägt es sich nicht
sowohl, ob die Verträge, durch die ein nicht geprüfter Arzt vor
dem Erlaß des Gesetzes die Behandlung gewisser Personen über-
nommen hatte, noch gültig bleiben, als ob die Ärzte, die schon
vor dem neuen Gesetz praktiziert hatten, ohne Prüfung weiter
praktizieren dürfen; ob sie also in Zukunft weiter die Verträge
schließen dürfen, in die sich die Ausübung des ärztlichen Berufes
kleidet. Das ist hier die praktisch allein bedeutsame Frage. Sie
bezieht sich zwar auch auf das Verhältnis des neuen Rechts zum

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[92/0107] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. wöhnlich zum Privatrecht zählt), sondern auch die Normen, welche zwingende Verbote oder Gebote aussprechen, mit der Rechtsfolge des unmittelbaren Zwanges oder der Strafe, wie die polizeilichen und anderen gewöhnlich dem öffentlichen Recht zu- gezählten Vorschriften. Beide sind in unserem Sinne öffentlich- rechtlich, weil zwingend, und beide bilden gegebenenfalls die Grenzen der rechtsgeschäftlichen Autonomie. Wenn z. B. ein Baugesetz den Bau von Wohnungen von weniger als drei Meter Höhe verbietet, wird auch der Werkvertrag, der den Bau solcher Wohnungen zum Gegenstand hat, ungültig sein. Wer über den Zeitpunkt der Wirksamkeit des öffentlich-rechtlichen Satzes ent- scheidet, entscheidet damit auch über die Gültigkeit der Rechts- geschäfte, die dagegen verstoßen. Man kann nicht das Baugesetz sofort und uneingeschränkt in Kraft setzen und die Verträge, durch welche gesetzwidrige Wohnungen gebaut (oder vermietet) werden, weiter gelten lassen; man kann das Wohnverbot nicht sofort und schrankenlos durchführen, ohne bestehende Verträge und Eigentumsbefugnisse, d. h. privatrechtliche Verhältnisse, zu verletzen. Wenn ein neues Gesetz gewisse Versicherungsarten dem Staate vorbehält, z. B. Die Versicherung des Mobiliars gegen Feuerschaden, frägt es sich, ob die bestehenden Verträge erlöschen sollen und mit welcher Wirkung, oder ob sie bis zum Ende der Vertragsdauer gültig bleiben sollen. Das ist die Frage der eigentlichen Rückwirkung. Hievon zu unterscheiden sind die Fälle, wo das neue Recht nicht mit bestehenden bereits begründeten Rechtsverhältnissen in Konflikt gerät, sondern nur mit der Möglichkeit, solche zu be- gründen. Wenn z. B. ein neues Gesetz die Ausübung des Ärzte- berufes an die Bedingung einer wissenschaftlichen Prüfung und einer obrigkeitlichen Bewilligung knüpft, so frägt es sich nicht sowohl, ob die Verträge, durch die ein nicht geprüfter Arzt vor dem Erlaß des Gesetzes die Behandlung gewisser Personen über- nommen hatte, noch gültig bleiben, als ob die Ärzte, die schon vor dem neuen Gesetz praktiziert hatten, ohne Prüfung weiter praktizieren dürfen; ob sie also in Zukunft weiter die Verträge schließen dürfen, in die sich die Ausübung des ärztlichen Berufes kleidet. Das ist hier die praktisch allein bedeutsame Frage. Sie bezieht sich zwar auch auf das Verhältnis des neuen Rechts zum

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/107>, abgerufen am 24.11.2024.