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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
Angenommen, nämlich, es gäbe gar kein Privatrecht (was keine
widerspruchsvolle Annahme ist [vgl. S. 16, 24, 74]), so könnte von
Rückwirkung (gegenüber bestehenden Rechten) gar nicht ge-
sprochen werden, weil es keine solchen subjektiven Rechte gäbe;
in einer Gesellschaft, in der alles Recht öffentliches, zwingendes
Recht wäre, in der alle (rechtlich geordnete) Tätigkeit verstaatlicht
wäre, ähnlich (aber noch planmäßiger und vollständiger) wie in
der Armee, wo der Staat für jeden zu sorgen und jeder nur dem
Staat verpflichtet ist, wäre ein neues Recht nie im eigentlichen
Sinn rückwirkend, weil es keine erworbenen Rechte gäbe; keine
Rechtsverhältnisse nämlich, die anerkannt werden müßten,
wie sie sind und ohne Rücksicht auf ihre materielle Berechtigung,
weil vielmehr alles abhängen würde vom jeweils geltenden Rechts-
satz, welcher wiederum jederzeit alles neu gestalten könnte, ohne
bestehende Rechte zu verletzen. Unter solchen Umständen wird
der neue Rechtssatz mehr oder weniger gerecht, gut begründet
und vernünftig sein; aber das Problem der Rückwirkung wird
ihm gegenüber nicht entstehen, weil dem neuen Recht nie die
bloße Tatsache entgegengehalten werden kann, daß bis dahin
gewisse Rechte formell gültig bestanden hätten; die Berücksichti-
gung des bisherigen (objektiven) Rechts und der dadurch geschaf-
fenen Rechtszustände durch das neue Recht vielmehr immer
lediglich eine Frage der materiellen Gerechtigkeit, nicht logischer
Folgerichtigkeit ist. Es gilt hier, auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts, für die Rechtssetzung dasselbe wie für die Rechtsan-
wendung, wie die in (unrichtiger) Anwendung eines öffentlich-
rechtlichen Satzes getroffene Verfügung grundsätzlich nicht auf-
recht erhalten bleiben kann, wenn sie sich als dem Rechtssatz
widersprechend erweist (vgl. S. 62), so kann grundsätzlich auch
der Gesetzgeber einen zwingenden Rechtssatz nicht aufrecht-
erhalten, wenn er sachlicher Prüfung nicht mehr stichhält; er
muß, will er seiner Aufgabe, das Richtige, Gerechte zu verwirk-
lichen, treu bleiben, den nicht mehr richtigen Rechtssatz abändern,
gleichwie die rechtsanwendende Behörde, die als gesetzwidrig
erkannte Verfügung aufheben muß, wenn sie ihrer Aufgabe, das
Recht anzuwenden, treu bleiben will1.

1 Unter Umständen allerdings kann sich hier wie dort die Berück-
[si]chtigung des bisherigen Rechts als billig erweisen, obschon es unrichtig

I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
Angenommen, nämlich, es gäbe gar kein Privatrecht (was keine
widerspruchsvolle Annahme ist [vgl. S. 16, 24, 74]), so könnte von
Rückwirkung (gegenüber bestehenden Rechten) gar nicht ge-
sprochen werden, weil es keine solchen subjektiven Rechte gäbe;
in einer Gesellschaft, in der alles Recht öffentliches, zwingendes
Recht wäre, in der alle (rechtlich geordnete) Tätigkeit verstaatlicht
wäre, ähnlich (aber noch planmäßiger und vollständiger) wie in
der Armee, wo der Staat für jeden zu sorgen und jeder nur dem
Staat verpflichtet ist, wäre ein neues Recht nie im eigentlichen
Sinn rückwirkend, weil es keine erworbenen Rechte gäbe; keine
Rechtsverhältnisse nämlich, die anerkannt werden müßten,
wie sie sind und ohne Rücksicht auf ihre materielle Berechtigung,
weil vielmehr alles abhängen würde vom jeweils geltenden Rechts-
satz, welcher wiederum jederzeit alles neu gestalten könnte, ohne
bestehende Rechte zu verletzen. Unter solchen Umständen wird
der neue Rechtssatz mehr oder weniger gerecht, gut begründet
und vernünftig sein; aber das Problem der Rückwirkung wird
ihm gegenüber nicht entstehen, weil dem neuen Recht nie die
bloße Tatsache entgegengehalten werden kann, daß bis dahin
gewisse Rechte formell gültig bestanden hätten; die Berücksichti-
gung des bisherigen (objektiven) Rechts und der dadurch geschaf-
fenen Rechtszustände durch das neue Recht vielmehr immer
lediglich eine Frage der materiellen Gerechtigkeit, nicht logischer
Folgerichtigkeit ist. Es gilt hier, auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts, für die Rechtssetzung dasselbe wie für die Rechtsan-
wendung, wie die in (unrichtiger) Anwendung eines öffentlich-
rechtlichen Satzes getroffene Verfügung grundsätzlich nicht auf-
recht erhalten bleiben kann, wenn sie sich als dem Rechtssatz
widersprechend erweist (vgl. S. 62), so kann grundsätzlich auch
der Gesetzgeber einen zwingenden Rechtssatz nicht aufrecht-
erhalten, wenn er sachlicher Prüfung nicht mehr stichhält; er
muß, will er seiner Aufgabe, das Richtige, Gerechte zu verwirk-
lichen, treu bleiben, den nicht mehr richtigen Rechtssatz abändern,
gleichwie die rechtsanwendende Behörde, die als gesetzwidrig
erkannte Verfügung aufheben muß, wenn sie ihrer Aufgabe, das
Recht anzuwenden, treu bleiben will1.

1 Unter Umständen allerdings kann sich hier wie dort die Berück-
[si]chtigung des bisherigen Rechts als billig erweisen, obschon es unrichtig
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[90/0105] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. Angenommen, nämlich, es gäbe gar kein Privatrecht (was keine widerspruchsvolle Annahme ist [vgl. S. 16, 24, 74]), so könnte von Rückwirkung (gegenüber bestehenden Rechten) gar nicht ge- sprochen werden, weil es keine solchen subjektiven Rechte gäbe; in einer Gesellschaft, in der alles Recht öffentliches, zwingendes Recht wäre, in der alle (rechtlich geordnete) Tätigkeit verstaatlicht wäre, ähnlich (aber noch planmäßiger und vollständiger) wie in der Armee, wo der Staat für jeden zu sorgen und jeder nur dem Staat verpflichtet ist, wäre ein neues Recht nie im eigentlichen Sinn rückwirkend, weil es keine erworbenen Rechte gäbe; keine Rechtsverhältnisse nämlich, die anerkannt werden müßten, wie sie sind und ohne Rücksicht auf ihre materielle Berechtigung, weil vielmehr alles abhängen würde vom jeweils geltenden Rechts- satz, welcher wiederum jederzeit alles neu gestalten könnte, ohne bestehende Rechte zu verletzen. Unter solchen Umständen wird der neue Rechtssatz mehr oder weniger gerecht, gut begründet und vernünftig sein; aber das Problem der Rückwirkung wird ihm gegenüber nicht entstehen, weil dem neuen Recht nie die bloße Tatsache entgegengehalten werden kann, daß bis dahin gewisse Rechte formell gültig bestanden hätten; die Berücksichti- gung des bisherigen (objektiven) Rechts und der dadurch geschaf- fenen Rechtszustände durch das neue Recht vielmehr immer lediglich eine Frage der materiellen Gerechtigkeit, nicht logischer Folgerichtigkeit ist. Es gilt hier, auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, für die Rechtssetzung dasselbe wie für die Rechtsan- wendung, wie die in (unrichtiger) Anwendung eines öffentlich- rechtlichen Satzes getroffene Verfügung grundsätzlich nicht auf- recht erhalten bleiben kann, wenn sie sich als dem Rechtssatz widersprechend erweist (vgl. S. 62), so kann grundsätzlich auch der Gesetzgeber einen zwingenden Rechtssatz nicht aufrecht- erhalten, wenn er sachlicher Prüfung nicht mehr stichhält; er muß, will er seiner Aufgabe, das Richtige, Gerechte zu verwirk- lichen, treu bleiben, den nicht mehr richtigen Rechtssatz abändern, gleichwie die rechtsanwendende Behörde, die als gesetzwidrig erkannte Verfügung aufheben muß, wenn sie ihrer Aufgabe, das Recht anzuwenden, treu bleiben will 1. 1 Unter Umständen allerdings kann sich hier wie dort die Berück- sichtigung des bisherigen Rechts als billig erweisen, obschon es unrichtig

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/105>, abgerufen am 28.11.2024.