Abänderlichkeit ist hier eine Frage sachlicher Abwägung und kann nicht durch begriffliche Deduktion formal entschieden werden.
Damit ist bereits die weitere Frage nach den wohlerworbenen Rechten berührt. Eine verbreitete, aber ungenügend begründete Ansicht lehrt ja: Privatrechte seien, wenn einmal begründet, unaufhebbar, wohlerworben; öffentliche Rechte dagegen könnten jederzeit aufgehoben werden, wo das öffentliche Interesse es ver- langt. Danach wäre also die nachträgliche Aufhebung eines Privatrechts oder eines Urteils über ein Privatrecht ein Eingriff in ein wohlerworbenes Recht, die Änderung eines Verwaltungs- aktes aber nicht (sondern nur, je nach Umständen, eine Unbillig- keit).
Man kann unseren Satz in der Tat auch so formulieren. Aber das Problem der wohlerworbenen Rechte ist weiter: es stellt nicht nur die Frage, wann eine rechtsanwendende Anordnung durch die Behörde, die sie getroffen hat, nachträglich abgeändert werden kann, sondern auch wann bestehende Rechtszustände durch rechtsetzende Anordnungen, durch Gesetz, nachträglich aufgehoben oder abgeändert werden können. Gemeinsam ist beiden Fällen die Eigentümlichkeit, daß ein formell gültiger, d. h. seiner Zeit rechtswirksam begründeter Rechtszustand nach- träglich wegen sachlicher Unrichtigkeit soll abgeändert werden; aber in einem Fall besteht die sachliche Unrichtigkeit im Wider- spruch der getroffenen Rechtsanwendung mit dem angewendeten Gesetz, im anderen besteht sie im Widerspruch der geltenden Rechtsnorm, des Gesetzes selbst, mit der Rechtsidee, mit dem richtigen Recht. Im ersten Fall soll ein Urteil oder ein Verwal- tungsakt abgeändert werden, weil sich herausstellt, daß sie dem Gesetz, in Anwendung dessen sie ergangen, widersprechen; im zweiten Fall soll das Gesetz selbst abgeändert werden, weil es der Forderung des Gerechten nicht oder nicht mehr entspricht. Das Problem der wohlerworbenen Rechte bezieht sich also nicht nur auf die Änderungen behördlicher Anordnungen in Anwendung einer gegebenen (gesetzlichen) Rechtsordnung, sondern auch und vornehmlich auf die Änderung dieser Rechtsordnung selbst, im Verhältnis zu Rechtszuständen, die rechtsgültig, unter der bis- herigen Ordnung entstanden sind, sei es durch behördliche Anord-
Die wohlerworbenen Rechte.
Abänderlichkeit ist hier eine Frage sachlicher Abwägung und kann nicht durch begriffliche Deduktion formal entschieden werden.
Damit ist bereits die weitere Frage nach den wohlerworbenen Rechten berührt. Eine verbreitete, aber ungenügend begründete Ansicht lehrt ja: Privatrechte seien, wenn einmal begründet, unaufhebbar, wohlerworben; öffentliche Rechte dagegen könnten jederzeit aufgehoben werden, wo das öffentliche Interesse es ver- langt. Danach wäre also die nachträgliche Aufhebung eines Privatrechts oder eines Urteils über ein Privatrecht ein Eingriff in ein wohlerworbenes Recht, die Änderung eines Verwaltungs- aktes aber nicht (sondern nur, je nach Umständen, eine Unbillig- keit).
Man kann unseren Satz in der Tat auch so formulieren. Aber das Problem der wohlerworbenen Rechte ist weiter: es stellt nicht nur die Frage, wann eine rechtsanwendende Anordnung durch die Behörde, die sie getroffen hat, nachträglich abgeändert werden kann, sondern auch wann bestehende Rechtszustände durch rechtsetzende Anordnungen, durch Gesetz, nachträglich aufgehoben oder abgeändert werden können. Gemeinsam ist beiden Fällen die Eigentümlichkeit, daß ein formell gültiger, d. h. seiner Zeit rechtswirksam begründeter Rechtszustand nach- träglich wegen sachlicher Unrichtigkeit soll abgeändert werden; aber in einem Fall besteht die sachliche Unrichtigkeit im Wider- spruch der getroffenen Rechtsanwendung mit dem angewendeten Gesetz, im anderen besteht sie im Widerspruch der geltenden Rechtsnorm, des Gesetzes selbst, mit der Rechtsidee, mit dem richtigen Recht. Im ersten Fall soll ein Urteil oder ein Verwal- tungsakt abgeändert werden, weil sich herausstellt, daß sie dem Gesetz, in Anwendung dessen sie ergangen, widersprechen; im zweiten Fall soll das Gesetz selbst abgeändert werden, weil es der Forderung des Gerechten nicht oder nicht mehr entspricht. Das Problem der wohlerworbenen Rechte bezieht sich also nicht nur auf die Änderungen behördlicher Anordnungen in Anwendung einer gegebenen (gesetzlichen) Rechtsordnung, sondern auch und vornehmlich auf die Änderung dieser Rechtsordnung selbst, im Verhältnis zu Rechtszuständen, die rechtsgültig, unter der bis- herigen Ordnung entstanden sind, sei es durch behördliche Anord-
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[85/0100]
Die wohlerworbenen Rechte.
Abänderlichkeit ist hier eine Frage sachlicher Abwägung und
kann nicht durch begriffliche Deduktion formal entschieden
werden.
Damit ist bereits die weitere Frage nach den wohlerworbenen
Rechten berührt. Eine verbreitete, aber ungenügend begründete
Ansicht lehrt ja: Privatrechte seien, wenn einmal begründet,
unaufhebbar, wohlerworben; öffentliche Rechte dagegen könnten
jederzeit aufgehoben werden, wo das öffentliche Interesse es ver-
langt. Danach wäre also die nachträgliche Aufhebung eines
Privatrechts oder eines Urteils über ein Privatrecht ein Eingriff
in ein wohlerworbenes Recht, die Änderung eines Verwaltungs-
aktes aber nicht (sondern nur, je nach Umständen, eine Unbillig-
keit).
Man kann unseren Satz in der Tat auch so formulieren. Aber
das Problem der wohlerworbenen Rechte ist weiter: es stellt
nicht nur die Frage, wann eine rechtsanwendende Anordnung
durch die Behörde, die sie getroffen hat, nachträglich abgeändert
werden kann, sondern auch wann bestehende Rechtszustände
durch rechtsetzende Anordnungen, durch Gesetz, nachträglich
aufgehoben oder abgeändert werden können. Gemeinsam ist
beiden Fällen die Eigentümlichkeit, daß ein formell gültiger,
d. h. seiner Zeit rechtswirksam begründeter Rechtszustand nach-
träglich wegen sachlicher Unrichtigkeit soll abgeändert werden;
aber in einem Fall besteht die sachliche Unrichtigkeit im Wider-
spruch der getroffenen Rechtsanwendung mit dem angewendeten
Gesetz, im anderen besteht sie im Widerspruch der geltenden
Rechtsnorm, des Gesetzes selbst, mit der Rechtsidee, mit dem
richtigen Recht. Im ersten Fall soll ein Urteil oder ein Verwal-
tungsakt abgeändert werden, weil sich herausstellt, daß sie dem
Gesetz, in Anwendung dessen sie ergangen, widersprechen; im
zweiten Fall soll das Gesetz selbst abgeändert werden, weil es der
Forderung des Gerechten nicht oder nicht mehr entspricht. Das
Problem der wohlerworbenen Rechte bezieht sich also nicht nur
auf die Änderungen behördlicher Anordnungen in Anwendung
einer gegebenen (gesetzlichen) Rechtsordnung, sondern auch und
vornehmlich auf die Änderung dieser Rechtsordnung selbst, im
Verhältnis zu Rechtszuständen, die rechtsgültig, unter der bis-
herigen Ordnung entstanden sind, sei es durch behördliche Anord-
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/100>, abgerufen am 24.11.2024.
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