Ganzen eher das Bestimmende gewesen. Michelangelo schwelgt in dem prometheischen Glück, alle Möglichkeiten der Bewegung, Stellung, Verkürzung, Gruppirung der reinen menschlichen Gestalt in die Wirk- lichkeit rufen zu können. Das jüngste Gericht war die einzige Scene, welche hiefür eine absolute Freiheit gewährte, vermöge des Schwe- bens. Vom malerischen Gesichtspunkt aus ist denn auch sein Werk einer ewigen Bewunderung sicher. Es wäre unnütz, die Motive ein- zeln aufzählen zu wollen; kein Theil der ganzen grossen Composition ist in dieser Beziehung vernachlässigt; überall darf man nach dem Warum? und Wie? der Stellung und Bewegung fragen und man wird Antwort erhalten.
Wenn nun zumal die Gruppe um den Richter mit ihrem Vor- zeigen der Marterinstrumente, mit ihrem brutalen Ruf um Vergeltung einigen Widerwillen erwecken mag; wenn der Weltrichter auch nur eine Figur ist wie alle andern, und zwar gerade eine der befangen- sten; -- immer noch bleibt das Ganze einzig auf Erden 1).
Die beiden grossen Wandgemälde in der nahen Capella Pao-a lina, Pauli Bekehrung und die Kreuzigung des Petrus, aus der spä- testen Zeit Michelangelo's, sind durch einen Brand entstellt und so schlecht beleuchtet (vielleicht am erträglichsten Nachmittags?) dass man sie besser aus den Stichen kennen lernt. In dem erstern ist die Geberde des oben erscheinenden Christus von einer zwingenden Ge- walt, der gestürzte Paulus eines der trefflichsten Motive des Meisters.
Staffeleibilder giebt es bekanntlich keine von seiner Hand, mit einziger Ausnahme eines frühen Rundbildes der heil. Familieb in der Tribuna der Uffizien. Die gesuchte Schwierigkeit (die knieende Maria hebt das Kind vom Schooss des hinter ihr sitzenden Joseph) ist nicht ganz besiegt; mit einer Gesinnung dieser Art soll man über-
1) Für den Zustand des Werkes vor der Übermalung, welche Daniel da Vol- terra auf Pauls IV Befehl unternahm, ist eine Copie des Marcello Venusti im Museum von Neapel, trotz auffallender Freiheiten, die wichtigste Urkunde.
Das jüngste Gericht. Die Capella Paolina.
Ganzen eher das Bestimmende gewesen. Michelangelo schwelgt in dem prometheischen Glück, alle Möglichkeiten der Bewegung, Stellung, Verkürzung, Gruppirung der reinen menschlichen Gestalt in die Wirk- lichkeit rufen zu können. Das jüngste Gericht war die einzige Scene, welche hiefür eine absolute Freiheit gewährte, vermöge des Schwe- bens. Vom malerischen Gesichtspunkt aus ist denn auch sein Werk einer ewigen Bewunderung sicher. Es wäre unnütz, die Motive ein- zeln aufzählen zu wollen; kein Theil der ganzen grossen Composition ist in dieser Beziehung vernachlässigt; überall darf man nach dem Warum? und Wie? der Stellung und Bewegung fragen und man wird Antwort erhalten.
Wenn nun zumal die Gruppe um den Richter mit ihrem Vor- zeigen der Marterinstrumente, mit ihrem brutalen Ruf um Vergeltung einigen Widerwillen erwecken mag; wenn der Weltrichter auch nur eine Figur ist wie alle andern, und zwar gerade eine der befangen- sten; — immer noch bleibt das Ganze einzig auf Erden 1).
Die beiden grossen Wandgemälde in der nahen Capella Pao-a lina, Pauli Bekehrung und die Kreuzigung des Petrus, aus der spä- testen Zeit Michelangelo’s, sind durch einen Brand entstellt und so schlecht beleuchtet (vielleicht am erträglichsten Nachmittags?) dass man sie besser aus den Stichen kennen lernt. In dem erstern ist die Geberde des oben erscheinenden Christus von einer zwingenden Ge- walt, der gestürzte Paulus eines der trefflichsten Motive des Meisters.
Staffeleibilder giebt es bekanntlich keine von seiner Hand, mit einziger Ausnahme eines frühen Rundbildes der heil. Familieb in der Tribuna der Uffizien. Die gesuchte Schwierigkeit (die knieende Maria hebt das Kind vom Schooss des hinter ihr sitzenden Joseph) ist nicht ganz besiegt; mit einer Gesinnung dieser Art soll man über-
1) Für den Zustand des Werkes vor der Übermalung, welche Daniel da Vol- terra auf Pauls IV Befehl unternahm, ist eine Copie des Marcello Venusti im Museum von Neapel, trotz auffallender Freiheiten, die wichtigste Urkunde.
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Das jüngste Gericht. Die Capella Paolina.
Ganzen eher das Bestimmende gewesen. Michelangelo schwelgt in
dem prometheischen Glück, alle Möglichkeiten der Bewegung, Stellung,
Verkürzung, Gruppirung der reinen menschlichen Gestalt in die Wirk-
lichkeit rufen zu können. Das jüngste Gericht war die einzige Scene,
welche hiefür eine absolute Freiheit gewährte, vermöge des Schwe-
bens. Vom malerischen Gesichtspunkt aus ist denn auch sein Werk
einer ewigen Bewunderung sicher. Es wäre unnütz, die Motive ein-
zeln aufzählen zu wollen; kein Theil der ganzen grossen Composition
ist in dieser Beziehung vernachlässigt; überall darf man nach dem
Warum? und Wie? der Stellung und Bewegung fragen und man wird
Antwort erhalten.
Wenn nun zumal die Gruppe um den Richter mit ihrem Vor-
zeigen der Marterinstrumente, mit ihrem brutalen Ruf um Vergeltung
einigen Widerwillen erwecken mag; wenn der Weltrichter auch nur
eine Figur ist wie alle andern, und zwar gerade eine der befangen-
sten; — immer noch bleibt das Ganze einzig auf Erden 1).
Die beiden grossen Wandgemälde in der nahen Capella Pao-
lina, Pauli Bekehrung und die Kreuzigung des Petrus, aus der spä-
testen Zeit Michelangelo’s, sind durch einen Brand entstellt und so
schlecht beleuchtet (vielleicht am erträglichsten Nachmittags?) dass
man sie besser aus den Stichen kennen lernt. In dem erstern ist die
Geberde des oben erscheinenden Christus von einer zwingenden Ge-
walt, der gestürzte Paulus eines der trefflichsten Motive des Meisters.
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mit einziger Ausnahme eines frühen Rundbildes der heil. Familie
in der Tribuna der Uffizien. Die gesuchte Schwierigkeit (die knieende
Maria hebt das Kind vom Schooss des hinter ihr sitzenden Joseph)
ist nicht ganz besiegt; mit einer Gesinnung dieser Art soll man über-
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1) Für den Zustand des Werkes vor der Übermalung, welche Daniel da Vol-
terra auf Pauls IV Befehl unternahm, ist eine Copie des Marcello Venusti
im Museum von Neapel, trotz auffallender Freiheiten, die wichtigste Urkunde.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 877. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/899>, abgerufen am 18.12.2024.
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