vergessen machen, dass gewisse Schulterbreiten, Halslängen u. a. Bildungen willkürlich und im einzelnen Fall monströs sind. Ange- sichts der Werke selbst wird man allerdings immer geneigt sein, dem Michelangelo ein eigenes Recht und Gesetz neben dem aller übrigen Kunst zuzugestehen. Die Grösse seiner Gedanken und Gedanken- reihen, die freie Schöpferkraft, mit welcher er alle denkbaren Motive des äussern Lebens ins Dasein ruft, machen das Wort Ariost's er- klärlich: Michel piu che mortale angel divino.
Von seinem ersten grossen Werke, jenem im Wetteifer mit Lio- nardo geschaffenen Carton für den Palazzo vecchio -- ebenfalls Scenen aus der Schlacht von Anghiari -- sind nur dürftige Erinnerungen auf unsere Zeit gekommen. Baccio Bandinelli hat denselben aus Neid zerschnitten.
In der Blüthe seiner Jahre unternahm Michelangelo die Ausmalung ades Gewölbes der sixtinischen Capelle in Vatican (etwa 1508--1511; von welcher Zeit die durchaus eigenhändige Ausführung 22 Monate in Anspruch nahm). (Bestes Licht: 10--12 Uhr.) Die Aufgabe bestand in lauter Scenen und Gestalten des alten Testamen- tes, mit wesentlichem Bezug auf dessen Verheissung. Er stufte die- sen Inhalt vierfach ab: in Geschichten, -- in einzelne historische Ge- stalten, -- in ruhende Gruppen, -- und in architektonisch belebende Figuren. Die Geschichten, welche ein Dasein in einem perspectivisch bestimmten, nicht bloss idealen Raum verlangen, vertheilte er an die mittlere Fläche des Gewölbes. (Eine Ausnahme machen die vier auf sphärische dreiseitige Flächen gemalten Eckbilder der Capelle, welche die wunderbaren Rettungen des Volkes Israel vorstellen: die Ge- schichten der ehernen Schlange, des Goliath, der Judith und der Esther. So wunderbar aber das Einzelne, zumal in der Scene der Judith, gedacht und gemalt sein mag, so findet sich doch das Auge an diesen Stellen schwer in das Historisch-Räumliche hinein.) -- Die Propheten und Sibyllen mit den sie begleitenden Genien erhielten ihre Stelle an den sich abwärts rundenden Theilen des Gewölbes; -- die Gruppen der Vorfahren Christi theils an den Gewölbekappen über den Fenstern, theils in den Lunetten welche die Fenster umgeben. Diese Theile sind sämmtlich nach einem idealen Raumgefühl com- ponirt. -- Diejenigen Figuren endlich, welche schon sehr passend "die
Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
vergessen machen, dass gewisse Schulterbreiten, Halslängen u. a. Bildungen willkürlich und im einzelnen Fall monströs sind. Ange- sichts der Werke selbst wird man allerdings immer geneigt sein, dem Michelangelo ein eigenes Recht und Gesetz neben dem aller übrigen Kunst zuzugestehen. Die Grösse seiner Gedanken und Gedanken- reihen, die freie Schöpferkraft, mit welcher er alle denkbaren Motive des äussern Lebens ins Dasein ruft, machen das Wort Ariost’s er- klärlich: Michel più che mortale angel divino.
Von seinem ersten grossen Werke, jenem im Wetteifer mit Lio- nardo geschaffenen Carton für den Palazzo vecchio — ebenfalls Scenen aus der Schlacht von Anghiari — sind nur dürftige Erinnerungen auf unsere Zeit gekommen. Baccio Bandinelli hat denselben aus Neid zerschnitten.
In der Blüthe seiner Jahre unternahm Michelangelo die Ausmalung ades Gewölbes der sixtinischen Capelle in Vatican (etwa 1508—1511; von welcher Zeit die durchaus eigenhändige Ausführung 22 Monate in Anspruch nahm). (Bestes Licht: 10—12 Uhr.) Die Aufgabe bestand in lauter Scenen und Gestalten des alten Testamen- tes, mit wesentlichem Bezug auf dessen Verheissung. Er stufte die- sen Inhalt vierfach ab: in Geschichten, — in einzelne historische Ge- stalten, — in ruhende Gruppen, — und in architektonisch belebende Figuren. Die Geschichten, welche ein Dasein in einem perspectivisch bestimmten, nicht bloss idealen Raum verlangen, vertheilte er an die mittlere Fläche des Gewölbes. (Eine Ausnahme machen die vier auf sphärische dreiseitige Flächen gemalten Eckbilder der Capelle, welche die wunderbaren Rettungen des Volkes Israel vorstellen: die Ge- schichten der ehernen Schlange, des Goliath, der Judith und der Esther. So wunderbar aber das Einzelne, zumal in der Scene der Judith, gedacht und gemalt sein mag, so findet sich doch das Auge an diesen Stellen schwer in das Historisch-Räumliche hinein.) — Die Propheten und Sibyllen mit den sie begleitenden Genien erhielten ihre Stelle an den sich abwärts rundenden Theilen des Gewölbes; — die Gruppen der Vorfahren Christi theils an den Gewölbekappen über den Fenstern, theils in den Lunetten welche die Fenster umgeben. Diese Theile sind sämmtlich nach einem idealen Raumgefühl com- ponirt. — Diejenigen Figuren endlich, welche schon sehr passend „die
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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
vergessen machen, dass gewisse Schulterbreiten, Halslängen u. a.
Bildungen willkürlich und im einzelnen Fall monströs sind. Ange-
sichts der Werke selbst wird man allerdings immer geneigt sein, dem
Michelangelo ein eigenes Recht und Gesetz neben dem aller übrigen
Kunst zuzugestehen. Die Grösse seiner Gedanken und Gedanken-
reihen, die freie Schöpferkraft, mit welcher er alle denkbaren Motive
des äussern Lebens ins Dasein ruft, machen das Wort Ariost’s er-
klärlich: Michel più che mortale angel divino.
Von seinem ersten grossen Werke, jenem im Wetteifer mit Lio-
nardo geschaffenen Carton für den Palazzo vecchio — ebenfalls Scenen
aus der Schlacht von Anghiari — sind nur dürftige Erinnerungen auf
unsere Zeit gekommen. Baccio Bandinelli hat denselben aus Neid
zerschnitten.
In der Blüthe seiner Jahre unternahm Michelangelo die Ausmalung
des Gewölbes der sixtinischen Capelle in Vatican (etwa
1508—1511; von welcher Zeit die durchaus eigenhändige Ausführung
22 Monate in Anspruch nahm). (Bestes Licht: 10—12 Uhr.) Die
Aufgabe bestand in lauter Scenen und Gestalten des alten Testamen-
tes, mit wesentlichem Bezug auf dessen Verheissung. Er stufte die-
sen Inhalt vierfach ab: in Geschichten, — in einzelne historische Ge-
stalten, — in ruhende Gruppen, — und in architektonisch belebende
Figuren. Die Geschichten, welche ein Dasein in einem perspectivisch
bestimmten, nicht bloss idealen Raum verlangen, vertheilte er an die
mittlere Fläche des Gewölbes. (Eine Ausnahme machen die vier auf
sphärische dreiseitige Flächen gemalten Eckbilder der Capelle, welche
die wunderbaren Rettungen des Volkes Israel vorstellen: die Ge-
schichten der ehernen Schlange, des Goliath, der Judith und der
Esther. So wunderbar aber das Einzelne, zumal in der Scene der
Judith, gedacht und gemalt sein mag, so findet sich doch das Auge
an diesen Stellen schwer in das Historisch-Räumliche hinein.) — Die
Propheten und Sibyllen mit den sie begleitenden Genien erhielten ihre
Stelle an den sich abwärts rundenden Theilen des Gewölbes; — die
Gruppen der Vorfahren Christi theils an den Gewölbekappen über
den Fenstern, theils in den Lunetten welche die Fenster umgeben.
Diese Theile sind sämmtlich nach einem idealen Raumgefühl com-
ponirt. — Diejenigen Figuren endlich, welche schon sehr passend „die
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 872. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/894>, abgerufen am 18.12.2024.
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