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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo und Schule.
wie eine helle Brustwehr die Gestalten durchschneidet, war vom
grössten Vortheil; das was die Zwölfe bewegt, liess sich dem Wesent-
lichen nach schon im Oberkörper ausdrücken. In der ganzen An-
ordnung, den Linien des Tisches und des Gemaches ist Lionardo
absichtlich so symmetrisch als seine Vorgänger; er überbietet sie durch
die höhere Architektonik seines Ganzen in je zwei Gruppen von je
Dreien, zu beiden Seiten der isolirten Hauptfigur.

Das aber ist das Göttliche an diesem Werke, dass das auf alle
Weise Bedingte als ein völlig Unbedingtes und Nothwendiges erscheint.
Ein ganz gewaltiger Geist hat hier alle seine Schätze vor uns aufge-
than und jegliche Stufe des Ausdruckes und der leiblichen Bildung
in wunderbar abgewogenen Grundsätzen zu Einer Harmonie vereinigt.
Den geistigen Inhalt hat Göthe abschliessend auseinandergesetzt. Welch
ein Geschlecht von Menschen ist diess! vom Erhabensten bis ins Be-
fangene, Vorbilder aller Männlichkeit, erstgeborne Söhne der vollen-
deten Kunst. Und wiederum von der bloss malerischen Seite ist Alles
neu und gewaltig, Gewandmotive, Verkürzungen, Contraste. Ja sieht
man bloss auf die Hände, so ist es als hätte alle Malerei vorher im
Traum gelegen und wäre nun erst erwacht.


Von den mailändischen Schülern hat Bernardino Luini (st.
nach 1529) bei seinen frühsten Arbeiten den Lionardo noch nicht ge-
kannt, bei denjenigen seiner mittlern Zeit ihn am treusten reproducirt,
bei den spätern aber auf der so gewonnenen Grundlage selbständig
weiter gedichtet, wobei es sich zeigt, dass er mit unzerstörbarer Naivetät
sich nur das von dem Meister angeeignet hatte, was ihm gemäss war.
Sein Sinn für schöne, seelenvolle Köpfe, für die Jugendseligkeit fand bei
dem Meister sein Genüge und die edelste Entwicklung, und noch
seine letzten Werke geben hievon das herrlichste Zeugniss. Dagegen
ist von der grossartig strengen Composition des Meisters gar nichts
auf ihn übergegangen; man sollte glauben er hätte das Abendmahl
nie gesehen (obschon er es einmal nachgeahmt hat), so linienwidrig
und ungeordnet sind seine meisten bewegten Scenen. Auch drapirt er
oft ganz leichtfertig und gleichgültig. Dafür besass er stellenweise,

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo und Schule.
wie eine helle Brustwehr die Gestalten durchschneidet, war vom
grössten Vortheil; das was die Zwölfe bewegt, liess sich dem Wesent-
lichen nach schon im Oberkörper ausdrücken. In der ganzen An-
ordnung, den Linien des Tisches und des Gemaches ist Lionardo
absichtlich so symmetrisch als seine Vorgänger; er überbietet sie durch
die höhere Architektonik seines Ganzen in je zwei Gruppen von je
Dreien, zu beiden Seiten der isolirten Hauptfigur.

Das aber ist das Göttliche an diesem Werke, dass das auf alle
Weise Bedingte als ein völlig Unbedingtes und Nothwendiges erscheint.
Ein ganz gewaltiger Geist hat hier alle seine Schätze vor uns aufge-
than und jegliche Stufe des Ausdruckes und der leiblichen Bildung
in wunderbar abgewogenen Grundsätzen zu Einer Harmonie vereinigt.
Den geistigen Inhalt hat Göthe abschliessend auseinandergesetzt. Welch
ein Geschlecht von Menschen ist diess! vom Erhabensten bis ins Be-
fangene, Vorbilder aller Männlichkeit, erstgeborne Söhne der vollen-
deten Kunst. Und wiederum von der bloss malerischen Seite ist Alles
neu und gewaltig, Gewandmotive, Verkürzungen, Contraste. Ja sieht
man bloss auf die Hände, so ist es als hätte alle Malerei vorher im
Traum gelegen und wäre nun erst erwacht.


Von den mailändischen Schülern hat Bernardino Luini (st.
nach 1529) bei seinen frühsten Arbeiten den Lionardo noch nicht ge-
kannt, bei denjenigen seiner mittlern Zeit ihn am treusten reproducirt,
bei den spätern aber auf der so gewonnenen Grundlage selbständig
weiter gedichtet, wobei es sich zeigt, dass er mit unzerstörbarer Naivetät
sich nur das von dem Meister angeeignet hatte, was ihm gemäss war.
Sein Sinn für schöne, seelenvolle Köpfe, für die Jugendseligkeit fand bei
dem Meister sein Genüge und die edelste Entwicklung, und noch
seine letzten Werke geben hievon das herrlichste Zeugniss. Dagegen
ist von der grossartig strengen Composition des Meisters gar nichts
auf ihn übergegangen; man sollte glauben er hätte das Abendmahl
nie gesehen (obschon er es einmal nachgeahmt hat), so linienwidrig
und ungeordnet sind seine meisten bewegten Scenen. Auch drapirt er
oft ganz leichtfertig und gleichgültig. Dafür besass er stellenweise,

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[866/0888] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo und Schule. wie eine helle Brustwehr die Gestalten durchschneidet, war vom grössten Vortheil; das was die Zwölfe bewegt, liess sich dem Wesent- lichen nach schon im Oberkörper ausdrücken. In der ganzen An- ordnung, den Linien des Tisches und des Gemaches ist Lionardo absichtlich so symmetrisch als seine Vorgänger; er überbietet sie durch die höhere Architektonik seines Ganzen in je zwei Gruppen von je Dreien, zu beiden Seiten der isolirten Hauptfigur. Das aber ist das Göttliche an diesem Werke, dass das auf alle Weise Bedingte als ein völlig Unbedingtes und Nothwendiges erscheint. Ein ganz gewaltiger Geist hat hier alle seine Schätze vor uns aufge- than und jegliche Stufe des Ausdruckes und der leiblichen Bildung in wunderbar abgewogenen Grundsätzen zu Einer Harmonie vereinigt. Den geistigen Inhalt hat Göthe abschliessend auseinandergesetzt. Welch ein Geschlecht von Menschen ist diess! vom Erhabensten bis ins Be- fangene, Vorbilder aller Männlichkeit, erstgeborne Söhne der vollen- deten Kunst. Und wiederum von der bloss malerischen Seite ist Alles neu und gewaltig, Gewandmotive, Verkürzungen, Contraste. Ja sieht man bloss auf die Hände, so ist es als hätte alle Malerei vorher im Traum gelegen und wäre nun erst erwacht. Von den mailändischen Schülern hat Bernardino Luini (st. nach 1529) bei seinen frühsten Arbeiten den Lionardo noch nicht ge- kannt, bei denjenigen seiner mittlern Zeit ihn am treusten reproducirt, bei den spätern aber auf der so gewonnenen Grundlage selbständig weiter gedichtet, wobei es sich zeigt, dass er mit unzerstörbarer Naivetät sich nur das von dem Meister angeeignet hatte, was ihm gemäss war. Sein Sinn für schöne, seelenvolle Köpfe, für die Jugendseligkeit fand bei dem Meister sein Genüge und die edelste Entwicklung, und noch seine letzten Werke geben hievon das herrlichste Zeugniss. Dagegen ist von der grossartig strengen Composition des Meisters gar nichts auf ihn übergegangen; man sollte glauben er hätte das Abendmahl nie gesehen (obschon er es einmal nachgeahmt hat), so linienwidrig und ungeordnet sind seine meisten bewegten Scenen. Auch drapirt er oft ganz leichtfertig und gleichgültig. Dafür besass er stellenweise,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 866. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/888>, abgerufen am 18.12.2024.