An Fülle von Lebensmotiven erreicht diese Schule die Florenti- ner natürlich lange nicht, allein ihre Gestalten sind doch in der Regel leicht, selbst edel gestellt und bewegt. Der heil. Sebastian als ste- hende Aufgabe hielt die Zeichnung des Nackten in einer bedeutenden Höhe. Die Gewandung gehorcht zwar mehr den Gesetzen des Far- benganzen als einem höhern Liniengefühl; immerhin bleibt sie freier von kleinlichen Motiven und Überladung als z. B. bei Filippino Lippi. Die Hauptsache sind aber dem Venezianer die Charaktere. Nicht zu scharfen und dadurch effectreichen Contrasten, sondern als Töne eines und desselben Accordes stellte er sie zusammen; nicht überir- disches Sehnen, nicht jäher Schmerz, sondern der Ausdruck ruhigen Glückes sollte sie beseelen; dieser, in energischen und wohlgebilde- ten Gestalten ausgesprochen, ist es, welcher den Sinn des Beschauers mit jenem innigen Wohlgefallen erfüllt, das keine andere Schule der Welt auf dieselbe Weise erweckt. Der Typus dieses Menschenge- schlechtes steht der Wirklichkeit noch so nahe, dass man es für mög- lich hält, solche Charaktere anzutreffen und mit ihnen zu leben. Ra- fael verspricht dergleichen nicht; abgesehen von der idealen Form stehen uns seine Gestalten auch durch hohe Beziehungen und Actio- nen ferner.
Giov. Bellini wird zwar von den meisten Genannten irgend ein- mal zur günstigen Stunde auch in den Charakteren erreicht, bleibt aber doch bei weitem der Grösste. Wahrscheinlich gehört ihm schon (für Venedig) die neue Anordnung der Altarwerke an: statt der Theilung in Tafeln rücken die einzelnen Heiligen zu einer Gruppe um die thro- nende Madonna, zu einer "santa conversazione" zusammen, die von einer offenen oder mit einer Mosaiknische geschlossenen Halle (vgl. S. 261, Anm. 2) schön architektonisch eingefasst wird; zudem baut er auch seine Gruppe fast mit derselben strengen, schön aufgehobenen Symmetrie wie Fra Bartolommeo. Drei grosse Altarbilder ersten Ranges sind noch von ihm in Venedig vorhanden: in S. Giovanni e Paoloa (erster Alt. rechts), in S. Zaccaria (zweiter Alt. links, vom Jahr 1505),b und in der Academie. Das Beisammensein der heil. Gestalten, ohnec Affect, ja ohne bestimmte Andacht, macht doch einen übermenschlichen Eindruck durch den Zusammenklang der glückseligen Existenz so vie- ler freier und schöner Charaktere. Die wunderbaren Engel an den
Colorit. Charaktere. Giov. Bellini.
An Fülle von Lebensmotiven erreicht diese Schule die Florenti- ner natürlich lange nicht, allein ihre Gestalten sind doch in der Regel leicht, selbst edel gestellt und bewegt. Der heil. Sebastian als ste- hende Aufgabe hielt die Zeichnung des Nackten in einer bedeutenden Höhe. Die Gewandung gehorcht zwar mehr den Gesetzen des Far- benganzen als einem höhern Liniengefühl; immerhin bleibt sie freier von kleinlichen Motiven und Überladung als z. B. bei Filippino Lippi. Die Hauptsache sind aber dem Venezianer die Charaktere. Nicht zu scharfen und dadurch effectreichen Contrasten, sondern als Töne eines und desselben Accordes stellte er sie zusammen; nicht überir- disches Sehnen, nicht jäher Schmerz, sondern der Ausdruck ruhigen Glückes sollte sie beseelen; dieser, in energischen und wohlgebilde- ten Gestalten ausgesprochen, ist es, welcher den Sinn des Beschauers mit jenem innigen Wohlgefallen erfüllt, das keine andere Schule der Welt auf dieselbe Weise erweckt. Der Typus dieses Menschenge- schlechtes steht der Wirklichkeit noch so nahe, dass man es für mög- lich hält, solche Charaktere anzutreffen und mit ihnen zu leben. Ra- fael verspricht dergleichen nicht; abgesehen von der idealen Form stehen uns seine Gestalten auch durch hohe Beziehungen und Actio- nen ferner.
Giov. Bellini wird zwar von den meisten Genannten irgend ein- mal zur günstigen Stunde auch in den Charakteren erreicht, bleibt aber doch bei weitem der Grösste. Wahrscheinlich gehört ihm schon (für Venedig) die neue Anordnung der Altarwerke an: statt der Theilung in Tafeln rücken die einzelnen Heiligen zu einer Gruppe um die thro- nende Madonna, zu einer „santa conversazione“ zusammen, die von einer offenen oder mit einer Mosaiknische geschlossenen Halle (vgl. S. 261, Anm. 2) schön architektonisch eingefasst wird; zudem baut er auch seine Gruppe fast mit derselben strengen, schön aufgehobenen Symmetrie wie Fra Bartolommeo. Drei grosse Altarbilder ersten Ranges sind noch von ihm in Venedig vorhanden: in S. Giovanni e Paoloa (erster Alt. rechts), in S. Zaccaria (zweiter Alt. links, vom Jahr 1505),b und in der Academie. Das Beisammensein der heil. Gestalten, ohnec Affect, ja ohne bestimmte Andacht, macht doch einen übermenschlichen Eindruck durch den Zusammenklang der glückseligen Existenz so vie- ler freier und schöner Charaktere. Die wunderbaren Engel an den
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Colorit. Charaktere. Giov. Bellini.
An Fülle von Lebensmotiven erreicht diese Schule die Florenti-
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leicht, selbst edel gestellt und bewegt. Der heil. Sebastian als ste-
hende Aufgabe hielt die Zeichnung des Nackten in einer bedeutenden
Höhe. Die Gewandung gehorcht zwar mehr den Gesetzen des Far-
benganzen als einem höhern Liniengefühl; immerhin bleibt sie freier
von kleinlichen Motiven und Überladung als z. B. bei Filippino Lippi.
Die Hauptsache sind aber dem Venezianer die Charaktere. Nicht
zu scharfen und dadurch effectreichen Contrasten, sondern als Töne
eines und desselben Accordes stellte er sie zusammen; nicht überir-
disches Sehnen, nicht jäher Schmerz, sondern der Ausdruck ruhigen
Glückes sollte sie beseelen; dieser, in energischen und wohlgebilde-
ten Gestalten ausgesprochen, ist es, welcher den Sinn des Beschauers
mit jenem innigen Wohlgefallen erfüllt, das keine andere Schule der
Welt auf dieselbe Weise erweckt. Der Typus dieses Menschenge-
schlechtes steht der Wirklichkeit noch so nahe, dass man es für mög-
lich hält, solche Charaktere anzutreffen und mit ihnen zu leben. Ra-
fael verspricht dergleichen nicht; abgesehen von der idealen Form
stehen uns seine Gestalten auch durch hohe Beziehungen und Actio-
nen ferner.
Giov. Bellini wird zwar von den meisten Genannten irgend ein-
mal zur günstigen Stunde auch in den Charakteren erreicht, bleibt aber
doch bei weitem der Grösste. Wahrscheinlich gehört ihm schon (für
Venedig) die neue Anordnung der Altarwerke an: statt der Theilung
in Tafeln rücken die einzelnen Heiligen zu einer Gruppe um die thro-
nende Madonna, zu einer „santa conversazione“ zusammen, die von
einer offenen oder mit einer Mosaiknische geschlossenen Halle (vgl.
S. 261, Anm. 2) schön architektonisch eingefasst wird; zudem baut
er auch seine Gruppe fast mit derselben strengen, schön aufgehobenen
Symmetrie wie Fra Bartolommeo. Drei grosse Altarbilder ersten Ranges
sind noch von ihm in Venedig vorhanden: in S. Giovanni e Paolo
(erster Alt. rechts), in S. Zaccaria (zweiter Alt. links, vom Jahr 1505),
und in der Academie. Das Beisammensein der heil. Gestalten, ohne
Affect, ja ohne bestimmte Andacht, macht doch einen übermenschlichen
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 825. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/847>, abgerufen am 18.12.2024.
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