Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
selben Gegenstandes, wo die drei schlafenden Jünger zwar nach allen
Gesetzen der verfeinerten Kunst geordnet, colorirt und beleuchtet,
aber eben nur drei Schläfer in idealer Draperie sind. Giotto deutete
an, dass sie unter dem Beten eingeschlafen seien. Und solcher un-
sterblich grossen Züge enthalten die Werke seiner Schule viele, aber
nur wer sie sucht, wird sie finden. -- Wir wollen vom Einzelnen
anfangen.

Giotto's grosses Verdienst lag nicht in einem Streben nach idealer
Schönheit, worin die Sienesen (S. 747, b) den Vorrang hatten, oder nach
Durchführung bis ins Wirkliche, bis in die Täuschung, worin ihn der
Geringste der Modernen übertreffen kann, und worin schon der Bild-
hauer Giovanni Pisano trotz seiner beschränkten Gattung viel weiter
gegangen war. Das Einzelne ist nur gerade so weit durchgebildet
als zum Ausdruck des Ganzen nothwendig ist. Daher noch keinerlei
Bezeichnung der Stoffe aus welchen die Dinge bestehen, kein Unter-
schied der Behandlung in Gewändern, Architektur, Fleisch u. s. w.
Selbst das Colorit befolgt eher eine gewisse conventionelle Scala
aals die Wirklichkeit. (Rothe, gelbe und bläuliche Pferde abwechselnd,
z. B. bei Spinello im Camposanto in Pisa; die braunrothe Luft in
der Geschichte Hiobs, bei der Audienz des Satans, ebenda.) Im Ganzen
ist die Färbung eine lichte, wie sie das Fresco verlangt, mit noch
hellern Tönen für die Lichtpartien; von der tiefen, eher dumpfen als
durchsichtigen byzantinischen Tonweise ging man mit Recht ab. (Die
bdelicateste Ausführung des Fresco überhaupt bei Antonio Veneziano,
Camposanto.) Die Bildung der menschlichen Gestalt erscheint
so weit vervollkommnet als zum freien Ausdruck der geistigen und
leiblichen Bewegung dienlich ist, letztere aber wird noch nicht dar-
gestellt weil oder wenn sie schön und anmuthig ist, sondern weil der
cGegenstand sie verlangt. (Die bedeutendste Menge nackter Figuren,
in der Hölle des Bernardo Orcagna, Camposanto, lässt einen Natura-
lismus erkennen, dessen Ursprung bei Giovanni Pisano zu suchen
dsein möchte. Ähnlich, doch unfreier, die Geschichte der ersten Men-
schen, von Pietro di Puccio, ebenda.) Der Typus der Köpfe ist
wohl bei den einzelnen Malern und innerhalb ihrer Bilder nach den
Gegenständen ein verschiedener, allein doch ungleich mehr derselbe
als bei Spätern, welche durch Contraste und psychologische Abstufung

Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
selben Gegenstandes, wo die drei schlafenden Jünger zwar nach allen
Gesetzen der verfeinerten Kunst geordnet, colorirt und beleuchtet,
aber eben nur drei Schläfer in idealer Draperie sind. Giotto deutete
an, dass sie unter dem Beten eingeschlafen seien. Und solcher un-
sterblich grossen Züge enthalten die Werke seiner Schule viele, aber
nur wer sie sucht, wird sie finden. — Wir wollen vom Einzelnen
anfangen.

Giotto’s grosses Verdienst lag nicht in einem Streben nach idealer
Schönheit, worin die Sienesen (S. 747, b) den Vorrang hatten, oder nach
Durchführung bis ins Wirkliche, bis in die Täuschung, worin ihn der
Geringste der Modernen übertreffen kann, und worin schon der Bild-
hauer Giovanni Pisano trotz seiner beschränkten Gattung viel weiter
gegangen war. Das Einzelne ist nur gerade so weit durchgebildet
als zum Ausdruck des Ganzen nothwendig ist. Daher noch keinerlei
Bezeichnung der Stoffe aus welchen die Dinge bestehen, kein Unter-
schied der Behandlung in Gewändern, Architektur, Fleisch u. s. w.
Selbst das Colorit befolgt eher eine gewisse conventionelle Scala
aals die Wirklichkeit. (Rothe, gelbe und bläuliche Pferde abwechselnd,
z. B. bei Spinello im Camposanto in Pisa; die braunrothe Luft in
der Geschichte Hiobs, bei der Audienz des Satans, ebenda.) Im Ganzen
ist die Färbung eine lichte, wie sie das Fresco verlangt, mit noch
hellern Tönen für die Lichtpartien; von der tiefen, eher dumpfen als
durchsichtigen byzantinischen Tonweise ging man mit Recht ab. (Die
bdelicateste Ausführung des Fresco überhaupt bei Antonio Veneziano,
Camposanto.) Die Bildung der menschlichen Gestalt erscheint
so weit vervollkommnet als zum freien Ausdruck der geistigen und
leiblichen Bewegung dienlich ist, letztere aber wird noch nicht dar-
gestellt weil oder wenn sie schön und anmuthig ist, sondern weil der
cGegenstand sie verlangt. (Die bedeutendste Menge nackter Figuren,
in der Hölle des Bernardo Orcagna, Camposanto, lässt einen Natura-
lismus erkennen, dessen Ursprung bei Giovanni Pisano zu suchen
dsein möchte. Ähnlich, doch unfreier, die Geschichte der ersten Men-
schen, von Pietro di Puccio, ebenda.) Der Typus der Köpfe ist
wohl bei den einzelnen Malern und innerhalb ihrer Bilder nach den
Gegenständen ein verschiedener, allein doch ungleich mehr derselbe
als bei Spätern, welche durch Contraste und psychologische Abstufung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0780" n="758"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.</hi></fw><lb/>
selben Gegenstandes, wo die drei schlafenden Jünger zwar nach allen<lb/>
Gesetzen der verfeinerten Kunst geordnet, colorirt und beleuchtet,<lb/>
aber eben nur drei Schläfer in idealer Draperie sind. Giotto deutete<lb/>
an, dass sie unter dem Beten eingeschlafen seien. Und solcher un-<lb/>
sterblich grossen Züge enthalten die Werke seiner Schule viele, aber<lb/>
nur wer sie sucht, wird sie finden. &#x2014; Wir wollen vom Einzelnen<lb/>
anfangen.</p><lb/>
        <p>Giotto&#x2019;s grosses Verdienst lag nicht in einem Streben nach idealer<lb/>
Schönheit, worin die Sienesen (S. 747, b) den Vorrang hatten, oder nach<lb/>
Durchführung bis ins Wirkliche, bis in die Täuschung, worin ihn der<lb/>
Geringste der Modernen übertreffen kann, und worin schon der Bild-<lb/>
hauer Giovanni Pisano trotz seiner beschränkten Gattung viel weiter<lb/>
gegangen war. Das Einzelne ist nur gerade so weit durchgebildet<lb/>
als zum Ausdruck des Ganzen nothwendig ist. Daher noch keinerlei<lb/>
Bezeichnung der Stoffe aus welchen die Dinge bestehen, kein Unter-<lb/>
schied der Behandlung in Gewändern, Architektur, Fleisch u. s. w.<lb/>
Selbst das <hi rendition="#g">Colorit</hi> befolgt eher eine gewisse conventionelle Scala<lb/><note place="left">a</note>als die Wirklichkeit. (Rothe, gelbe und bläuliche Pferde abwechselnd,<lb/>
z. B. bei Spinello im Camposanto in Pisa; die braunrothe Luft in<lb/>
der Geschichte Hiobs, bei der Audienz des Satans, ebenda.) Im Ganzen<lb/>
ist die Färbung eine lichte, wie sie das Fresco verlangt, mit noch<lb/>
hellern Tönen für die Lichtpartien; von der tiefen, eher dumpfen als<lb/>
durchsichtigen byzantinischen Tonweise ging man mit Recht ab. (Die<lb/><note place="left">b</note>delicateste Ausführung des Fresco überhaupt bei Antonio Veneziano,<lb/>
Camposanto.) Die Bildung der <hi rendition="#g">menschlichen Gestalt</hi> erscheint<lb/>
so weit vervollkommnet als zum freien Ausdruck der geistigen und<lb/>
leiblichen Bewegung dienlich ist, letztere aber wird noch nicht dar-<lb/>
gestellt weil oder wenn sie schön und anmuthig ist, sondern weil der<lb/><note place="left">c</note>Gegenstand sie verlangt. (Die bedeutendste Menge <hi rendition="#g">nackter</hi> Figuren,<lb/>
in der Hölle des Bernardo Orcagna, Camposanto, lässt einen Natura-<lb/>
lismus erkennen, dessen Ursprung bei Giovanni Pisano zu suchen<lb/><note place="left">d</note>sein möchte. Ähnlich, doch unfreier, die Geschichte der ersten Men-<lb/>
schen, von Pietro di Puccio, ebenda.) Der Typus der <hi rendition="#g">Köpfe</hi> ist<lb/>
wohl bei den einzelnen Malern und innerhalb ihrer Bilder nach den<lb/>
Gegenständen ein verschiedener, allein doch ungleich mehr derselbe<lb/>
als bei Spätern, welche durch Contraste und psychologische Abstufung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[758/0780] Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule. selben Gegenstandes, wo die drei schlafenden Jünger zwar nach allen Gesetzen der verfeinerten Kunst geordnet, colorirt und beleuchtet, aber eben nur drei Schläfer in idealer Draperie sind. Giotto deutete an, dass sie unter dem Beten eingeschlafen seien. Und solcher un- sterblich grossen Züge enthalten die Werke seiner Schule viele, aber nur wer sie sucht, wird sie finden. — Wir wollen vom Einzelnen anfangen. Giotto’s grosses Verdienst lag nicht in einem Streben nach idealer Schönheit, worin die Sienesen (S. 747, b) den Vorrang hatten, oder nach Durchführung bis ins Wirkliche, bis in die Täuschung, worin ihn der Geringste der Modernen übertreffen kann, und worin schon der Bild- hauer Giovanni Pisano trotz seiner beschränkten Gattung viel weiter gegangen war. Das Einzelne ist nur gerade so weit durchgebildet als zum Ausdruck des Ganzen nothwendig ist. Daher noch keinerlei Bezeichnung der Stoffe aus welchen die Dinge bestehen, kein Unter- schied der Behandlung in Gewändern, Architektur, Fleisch u. s. w. Selbst das Colorit befolgt eher eine gewisse conventionelle Scala als die Wirklichkeit. (Rothe, gelbe und bläuliche Pferde abwechselnd, z. B. bei Spinello im Camposanto in Pisa; die braunrothe Luft in der Geschichte Hiobs, bei der Audienz des Satans, ebenda.) Im Ganzen ist die Färbung eine lichte, wie sie das Fresco verlangt, mit noch hellern Tönen für die Lichtpartien; von der tiefen, eher dumpfen als durchsichtigen byzantinischen Tonweise ging man mit Recht ab. (Die delicateste Ausführung des Fresco überhaupt bei Antonio Veneziano, Camposanto.) Die Bildung der menschlichen Gestalt erscheint so weit vervollkommnet als zum freien Ausdruck der geistigen und leiblichen Bewegung dienlich ist, letztere aber wird noch nicht dar- gestellt weil oder wenn sie schön und anmuthig ist, sondern weil der Gegenstand sie verlangt. (Die bedeutendste Menge nackter Figuren, in der Hölle des Bernardo Orcagna, Camposanto, lässt einen Natura- lismus erkennen, dessen Ursprung bei Giovanni Pisano zu suchen sein möchte. Ähnlich, doch unfreier, die Geschichte der ersten Men- schen, von Pietro di Puccio, ebenda.) Der Typus der Köpfe ist wohl bei den einzelnen Malern und innerhalb ihrer Bilder nach den Gegenständen ein verschiedener, allein doch ungleich mehr derselbe als bei Spätern, welche durch Contraste und psychologische Abstufung a b c d

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/780
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 758. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/780>, abgerufen am 18.12.2024.