Die Zeit des Künstlers freilich wurde von dem Guten und von dem Bösen, das in ihm lag, ohne Unterschied ergriffen; er imponirte ihr auf dämonische Weise. Über ihm vergass sie binnen 20 Jah- ren Rafael vollständig. Die Künstler selber abstrahirten aus dem, was bei Michelangelo die Äusserung eines innern Kampfes war, die Theorie der Bravour und brauchten seine Mittel ohne seine Gedan- ken, wovon unten ein Mehreres. Die Besteller, unter der Herrschaft einer Bildung, welche ohnehin jede Allegorie guthiess, liessen sich von Michelangelo das Unerhörte auf diesem Gebiete gefallen und be- merkten nicht, dass er bloss Anlass zur Schöpfung bewegter Gestal- ten suchte.
Die Reihe dieser freien, rein künstlerischen Gedanken beginnt schon frühe (vor der Pieta) mit dem Bacchus in den Uffiziena (Ende des 2. Ganges). Mit dem antiken Dionysos-Ideal, wie wir es jetzt, nach den seither ausgegrabenen Resten und den tiefen Forschungen der Archäologie kennen, darf man diesen Bacchus nicht vergleichen ohne Ungerechtigkeit; er ist hervorgebracht unter der Voraussetzung, einen trunkenen Jüngling darstellen zu müssen, daher mit einem bur- lesken Anflug, mit starren Augen, lallendem Mund, vortretendem Bauche. Vielleicht die erste Statue der neuern Kunst, welche mit der Absicht auf vollkommene Durchbildung eines nackten Körpers geschaffen wor- den ist! ohne Zweifel das Resultat der fleissigsten Naturstudien, und doch abgesehen vom Gegenstand schon durch die bizarre Stellung gründlich ungeniessbar, zumal von links her gesehen.
Auf den ersten Blick gefällt der colossale David vor dem Pa-b lazzo vecchio in Florenz (1501--1503) vielleicht noch weniger. Allein der Künstler war auf einen Marmorblock angewiesen, aus welchem schon ein früherer Bildhauer irgend Etwas zu meisseln begonnen hatte; sodann beging er einen Fehler, den der Beschauer in Gedanken wieder gut machen kann, er glaubte nämlich David ganz jung darstellen zu müssen und nahm einen Knaben zum Modell, dessen Formen er colos- sal bildete. (Was hauptsächlich bei der Seitenansicht bemerklich wird.) Nun lassen sich aber nur erwachsene Personen passend vergrössern (S. 444, Anm.), wenigstens bei isolirter Aufstellung, denn in Gesell- schaft anderer Colosse kann auch das colossale Kind seine berech- tigte Stelle finden. Durch ein Verkleinerungsglas gesehen gewinnt der
Der Bacchus. Der David.
Die Zeit des Künstlers freilich wurde von dem Guten und von dem Bösen, das in ihm lag, ohne Unterschied ergriffen; er imponirte ihr auf dämonische Weise. Über ihm vergass sie binnen 20 Jah- ren Rafael vollständig. Die Künstler selber abstrahirten aus dem, was bei Michelangelo die Äusserung eines innern Kampfes war, die Theorie der Bravour und brauchten seine Mittel ohne seine Gedan- ken, wovon unten ein Mehreres. Die Besteller, unter der Herrschaft einer Bildung, welche ohnehin jede Allegorie guthiess, liessen sich von Michelangelo das Unerhörte auf diesem Gebiete gefallen und be- merkten nicht, dass er bloss Anlass zur Schöpfung bewegter Gestal- ten suchte.
Die Reihe dieser freien, rein künstlerischen Gedanken beginnt schon frühe (vor der Pietà) mit dem Bacchus in den Uffiziena (Ende des 2. Ganges). Mit dem antiken Dionysos-Ideal, wie wir es jetzt, nach den seither ausgegrabenen Resten und den tiefen Forschungen der Archäologie kennen, darf man diesen Bacchus nicht vergleichen ohne Ungerechtigkeit; er ist hervorgebracht unter der Voraussetzung, einen trunkenen Jüngling darstellen zu müssen, daher mit einem bur- lesken Anflug, mit starren Augen, lallendem Mund, vortretendem Bauche. Vielleicht die erste Statue der neuern Kunst, welche mit der Absicht auf vollkommene Durchbildung eines nackten Körpers geschaffen wor- den ist! ohne Zweifel das Resultat der fleissigsten Naturstudien, und doch abgesehen vom Gegenstand schon durch die bizarre Stellung gründlich ungeniessbar, zumal von links her gesehen.
Auf den ersten Blick gefällt der colossale David vor dem Pa-b lazzo vecchio in Florenz (1501—1503) vielleicht noch weniger. Allein der Künstler war auf einen Marmorblock angewiesen, aus welchem schon ein früherer Bildhauer irgend Etwas zu meisseln begonnen hatte; sodann beging er einen Fehler, den der Beschauer in Gedanken wieder gut machen kann, er glaubte nämlich David ganz jung darstellen zu müssen und nahm einen Knaben zum Modell, dessen Formen er colos- sal bildete. (Was hauptsächlich bei der Seitenansicht bemerklich wird.) Nun lassen sich aber nur erwachsene Personen passend vergrössern (S. 444, Anm.), wenigstens bei isolirter Aufstellung, denn in Gesell- schaft anderer Colosse kann auch das colossale Kind seine berech- tigte Stelle finden. Durch ein Verkleinerungsglas gesehen gewinnt der
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Der Bacchus. Der David.
Die Zeit des Künstlers freilich wurde von dem Guten und von
dem Bösen, das in ihm lag, ohne Unterschied ergriffen; er imponirte
ihr auf dämonische Weise. Über ihm vergass sie binnen 20 Jah-
ren Rafael vollständig. Die Künstler selber abstrahirten aus dem,
was bei Michelangelo die Äusserung eines innern Kampfes war, die
Theorie der Bravour und brauchten seine Mittel ohne seine Gedan-
ken, wovon unten ein Mehreres. Die Besteller, unter der Herrschaft
einer Bildung, welche ohnehin jede Allegorie guthiess, liessen sich
von Michelangelo das Unerhörte auf diesem Gebiete gefallen und be-
merkten nicht, dass er bloss Anlass zur Schöpfung bewegter Gestal-
ten suchte.
Die Reihe dieser freien, rein künstlerischen Gedanken beginnt
schon frühe (vor der Pietà) mit dem Bacchus in den Uffizien
(Ende des 2. Ganges). Mit dem antiken Dionysos-Ideal, wie wir es
jetzt, nach den seither ausgegrabenen Resten und den tiefen Forschungen
der Archäologie kennen, darf man diesen Bacchus nicht vergleichen
ohne Ungerechtigkeit; er ist hervorgebracht unter der Voraussetzung,
einen trunkenen Jüngling darstellen zu müssen, daher mit einem bur-
lesken Anflug, mit starren Augen, lallendem Mund, vortretendem Bauche.
Vielleicht die erste Statue der neuern Kunst, welche mit der Absicht
auf vollkommene Durchbildung eines nackten Körpers geschaffen wor-
den ist! ohne Zweifel das Resultat der fleissigsten Naturstudien, und
doch abgesehen vom Gegenstand schon durch die bizarre Stellung
gründlich ungeniessbar, zumal von links her gesehen.
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Auf den ersten Blick gefällt der colossale David vor dem Pa-
lazzo vecchio in Florenz (1501—1503) vielleicht noch weniger. Allein
der Künstler war auf einen Marmorblock angewiesen, aus welchem
schon ein früherer Bildhauer irgend Etwas zu meisseln begonnen hatte;
sodann beging er einen Fehler, den der Beschauer in Gedanken wieder
gut machen kann, er glaubte nämlich David ganz jung darstellen zu
müssen und nahm einen Knaben zum Modell, dessen Formen er colos-
sal bildete. (Was hauptsächlich bei der Seitenansicht bemerklich wird.)
Nun lassen sich aber nur erwachsene Personen passend vergrössern
(S. 444, Anm.), wenigstens bei isolirter Aufstellung, denn in Gesell-
schaft anderer Colosse kann auch das colossale Kind seine berech-
tigte Stelle finden. Durch ein Verkleinerungsglas gesehen gewinnt der
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 669. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/691>, abgerufen am 18.12.2024.
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