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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Venedig.
aber fleissig, naiv und vom zartesten Gemüthsausdruck sieht das Werk
aus, als hätte Sansovin es noch von Rom her mitgebracht.


Wen Sansovino von der ältern venezian. Schule noch in Thätig-
keit antraf, wissen wir nicht; es scheint eher, dass seine Anstellung
mit dem Auslöschen jener zusammenhing. Es mögen um 1530 auch
andere Schüler des ältern Andrea Sansovino in Venedig gelebt haben;
avon einem solchen sind wohl die drei Reliefs der Verkündigung, An-
betung der Hirten und Anbetung der Könige in der kleinen sechs-
eckigen Capelle bei S. Micchele. Bei einer nicht besonders ge-
schickten Anordnung (sodass man z. B. nicht an Tribolo denken kann)
sind sie vielleicht das Holdeste und Süsseste, was Venedig in Marmor
darbietet, von einem Reiz der Formen und einem Seelenausdruck in
Zügen und Geberden, der Entzücken erregt. -- Gewiss war damals
auch Guglielmo Bergamasco noch in Thätigkeit, der 1530 eben
diese Capelle baute. Sollte er etwa der Urheber der drei Reliefs
bsein? die einzige bekannte Statue von ihm, eine heil. Magdalena auf
dem Altar der ersten Capelle rechts vom Chor in S. Giovanni e Paolo,
würde mit ihrer reichen und süssen Schönheit, selbst mit ihrem bau-
schigen und doch nicht unplastischen Gewande zu diesen Arbeiten
wohl passen. (Die übrigen Sculpturen des betreffenden Altars eine
zum Theil gute Schularbeit der Lombardi.)

Jedenfalls gewann Jacopo S. einen Einfluss, der alle Übrigen in
Schatten stellte und fast ausschliesslich um ihn eine Schule versam-
melte. Bei einem Bau von so grossem plastischem Reichthum wie
cdie Biblioteca ergab sich, scheint es, die Sache von selbst; aus-
drücklich werden Tommaso Lombardo (vielleicht ein Verwandter
der ältern Lombardi), Girolamo Lombardo, Danese Cataneo
und Alessandro Vittoria als ausführende Schüler genannt. Ich
glaube diejenigen Sculpturen, welche noch unter unmittelbarer Auf-
sicht und Theilnahme des Meisters zu Stande kamen, finden sich
hauptsächlich an der Schmalseite gegen die Riva und etwa an dem
ersten Drittel der Seite gegen die Piazzetta. Hier haben die Reliefs
in den Bogen, die Flussgötter in den Füllungen des untern, die
Göttinnen in denjenigen des obern Geschosses die schönste und kräf-
tigste Bildung. (Bei den Flussgöttern ist anzuerkennen, dass sie von

Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Venedig.
aber fleissig, naiv und vom zartesten Gemüthsausdruck sieht das Werk
aus, als hätte Sansovin es noch von Rom her mitgebracht.


Wen Sansovino von der ältern venezian. Schule noch in Thätig-
keit antraf, wissen wir nicht; es scheint eher, dass seine Anstellung
mit dem Auslöschen jener zusammenhing. Es mögen um 1530 auch
andere Schüler des ältern Andrea Sansovino in Venedig gelebt haben;
avon einem solchen sind wohl die drei Reliefs der Verkündigung, An-
betung der Hirten und Anbetung der Könige in der kleinen sechs-
eckigen Capelle bei S. Micchele. Bei einer nicht besonders ge-
schickten Anordnung (sodass man z. B. nicht an Tribolo denken kann)
sind sie vielleicht das Holdeste und Süsseste, was Venedig in Marmor
darbietet, von einem Reiz der Formen und einem Seelenausdruck in
Zügen und Geberden, der Entzücken erregt. — Gewiss war damals
auch Guglielmo Bergamasco noch in Thätigkeit, der 1530 eben
diese Capelle baute. Sollte er etwa der Urheber der drei Reliefs
bsein? die einzige bekannte Statue von ihm, eine heil. Magdalena auf
dem Altar der ersten Capelle rechts vom Chor in S. Giovanni e Paolo,
würde mit ihrer reichen und süssen Schönheit, selbst mit ihrem bau-
schigen und doch nicht unplastischen Gewande zu diesen Arbeiten
wohl passen. (Die übrigen Sculpturen des betreffenden Altars eine
zum Theil gute Schularbeit der Lombardi.)

Jedenfalls gewann Jacopo S. einen Einfluss, der alle Übrigen in
Schatten stellte und fast ausschliesslich um ihn eine Schule versam-
melte. Bei einem Bau von so grossem plastischem Reichthum wie
cdie Biblioteca ergab sich, scheint es, die Sache von selbst; aus-
drücklich werden Tommaso Lombardo (vielleicht ein Verwandter
der ältern Lombardi), Girolamo Lombardo, Danese Cataneo
und Alessandro Vittoria als ausführende Schüler genannt. Ich
glaube diejenigen Sculpturen, welche noch unter unmittelbarer Auf-
sicht und Theilnahme des Meisters zu Stande kamen, finden sich
hauptsächlich an der Schmalseite gegen die Riva und etwa an dem
ersten Drittel der Seite gegen die Piazzetta. Hier haben die Reliefs
in den Bogen, die Flussgötter in den Füllungen des untern, die
Göttinnen in denjenigen des obern Geschosses die schönste und kräf-
tigste Bildung. (Bei den Flussgöttern ist anzuerkennen, dass sie von

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[656/0678] Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Venedig. aber fleissig, naiv und vom zartesten Gemüthsausdruck sieht das Werk aus, als hätte Sansovin es noch von Rom her mitgebracht. Wen Sansovino von der ältern venezian. Schule noch in Thätig- keit antraf, wissen wir nicht; es scheint eher, dass seine Anstellung mit dem Auslöschen jener zusammenhing. Es mögen um 1530 auch andere Schüler des ältern Andrea Sansovino in Venedig gelebt haben; von einem solchen sind wohl die drei Reliefs der Verkündigung, An- betung der Hirten und Anbetung der Könige in der kleinen sechs- eckigen Capelle bei S. Micchele. Bei einer nicht besonders ge- schickten Anordnung (sodass man z. B. nicht an Tribolo denken kann) sind sie vielleicht das Holdeste und Süsseste, was Venedig in Marmor darbietet, von einem Reiz der Formen und einem Seelenausdruck in Zügen und Geberden, der Entzücken erregt. — Gewiss war damals auch Guglielmo Bergamasco noch in Thätigkeit, der 1530 eben diese Capelle baute. Sollte er etwa der Urheber der drei Reliefs sein? die einzige bekannte Statue von ihm, eine heil. Magdalena auf dem Altar der ersten Capelle rechts vom Chor in S. Giovanni e Paolo, würde mit ihrer reichen und süssen Schönheit, selbst mit ihrem bau- schigen und doch nicht unplastischen Gewande zu diesen Arbeiten wohl passen. (Die übrigen Sculpturen des betreffenden Altars eine zum Theil gute Schularbeit der Lombardi.) a b Jedenfalls gewann Jacopo S. einen Einfluss, der alle Übrigen in Schatten stellte und fast ausschliesslich um ihn eine Schule versam- melte. Bei einem Bau von so grossem plastischem Reichthum wie die Biblioteca ergab sich, scheint es, die Sache von selbst; aus- drücklich werden Tommaso Lombardo (vielleicht ein Verwandter der ältern Lombardi), Girolamo Lombardo, Danese Cataneo und Alessandro Vittoria als ausführende Schüler genannt. Ich glaube diejenigen Sculpturen, welche noch unter unmittelbarer Auf- sicht und Theilnahme des Meisters zu Stande kamen, finden sich hauptsächlich an der Schmalseite gegen die Riva und etwa an dem ersten Drittel der Seite gegen die Piazzetta. Hier haben die Reliefs in den Bogen, die Flussgötter in den Füllungen des untern, die Göttinnen in denjenigen des obern Geschosses die schönste und kräf- tigste Bildung. (Bei den Flussgöttern ist anzuerkennen, dass sie von c

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/678>, abgerufen am 16.07.2024.