Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Jacopo Sansovino.
Erlöser wiederum eine nicht alltägliche Composition; man wird aber
vielleicht die beiden einzelnen marmornen Engel auf den Seiten vor-
ziehen.

Derselbe Chor enthält auch noch die einzige Arbeit, in welchera
S. dem übermächtigen Einfluss Michelangelo's einen kenntlichen Tribut
bezahlt hat, nämlich die sitzenden Bronzestatuetten der vier Evange-
listen auf dem Geländer zunächst vor dem Hochaltar. (Die vier
Kirchenlehrer sind von einem Spätern hinzugearbeitet.) Man wird
ohne Schwierigkeit den "Moses" Michelangelo's als ihr Vorbild er-
kennen, aber auch gestehen, dass sie von allen Nachahmungen die
freiste und eigenthümlichste sind.

Im Dogenpalast empfängt uns Sansovin mit den beiden Co-b
lossalstatuen des Mars und Neptun, von welchen die Riesentreppe
ihren Namen hat. Ihre unschöne Stellung, zumal beim Anblick von
vorn, fällt schneller in die Augen als ihre guten Eigenschaften, welche
erst demjenigen ganz klar werden, welcher sie in Gedanken mit den
gleichzeitigen Trivialitäten eines Bandinelli vergleicht. Sie sind vor
Allem noch anspruchlos und mit Überzeugung geschaffen, ohne ge-
waltsame Motive und erborgte Musculatur; es sind noch echte, un-
mittelbare Werke der Renaissance, eigene, wenn auch nicht voll-
kommene Idealtypen eines schöpfungsfähigen Künstlers, der selbst
mangelhafte Motive durch grossartige Behandlung zu heben wusste.

Ein anderes bedeutendes Werk ist die thönerne vergoldete Ma-c
donna im Innern der Loggia des Marcusthurmes; sie ermuthigt den
unten hingeschmiegten kleinen Johannes durch Streicheln seines Haa-
res, sich dem segnenden Christuskinde zu nähern. Verkleistert, be-
stäubt, verstümmelt und von jeher etwas manierirt in den Formen,
ist die Gruppe doch immer von einem liebenswürdigen Gedanken be-
lebt. -- (Durchaus schlecht: die Madonna in der Capelle des Dogen-d
palastes.)

Als tüchtiges monumental aufgefasstes Porträt ist die ehernee
sitzende Statue des Gelehrten Thomas von Ravenna über dem Portal
von S. Giulian etwa mit Tintoretto in Parallele zu setzen.

In welche Periode endlich gehört der Johannes über dem Tauf-f
becken in den Frari (Cap. S. Pietro, links)? Unplastisch componirt,

Jacopo Sansovino.
Erlöser wiederum eine nicht alltägliche Composition; man wird aber
vielleicht die beiden einzelnen marmornen Engel auf den Seiten vor-
ziehen.

Derselbe Chor enthält auch noch die einzige Arbeit, in welchera
S. dem übermächtigen Einfluss Michelangelo’s einen kenntlichen Tribut
bezahlt hat, nämlich die sitzenden Bronzestatuetten der vier Evange-
listen auf dem Geländer zunächst vor dem Hochaltar. (Die vier
Kirchenlehrer sind von einem Spätern hinzugearbeitet.) Man wird
ohne Schwierigkeit den „Moses“ Michelangelo’s als ihr Vorbild er-
kennen, aber auch gestehen, dass sie von allen Nachahmungen die
freiste und eigenthümlichste sind.

Im Dogenpalast empfängt uns Sansovin mit den beiden Co-b
lossalstatuen des Mars und Neptun, von welchen die Riesentreppe
ihren Namen hat. Ihre unschöne Stellung, zumal beim Anblick von
vorn, fällt schneller in die Augen als ihre guten Eigenschaften, welche
erst demjenigen ganz klar werden, welcher sie in Gedanken mit den
gleichzeitigen Trivialitäten eines Bandinelli vergleicht. Sie sind vor
Allem noch anspruchlos und mit Überzeugung geschaffen, ohne ge-
waltsame Motive und erborgte Musculatur; es sind noch echte, un-
mittelbare Werke der Renaissance, eigene, wenn auch nicht voll-
kommene Idealtypen eines schöpfungsfähigen Künstlers, der selbst
mangelhafte Motive durch grossartige Behandlung zu heben wusste.

Ein anderes bedeutendes Werk ist die thönerne vergoldete Ma-c
donna im Innern der Loggia des Marcusthurmes; sie ermuthigt den
unten hingeschmiegten kleinen Johannes durch Streicheln seines Haa-
res, sich dem segnenden Christuskinde zu nähern. Verkleistert, be-
stäubt, verstümmelt und von jeher etwas manierirt in den Formen,
ist die Gruppe doch immer von einem liebenswürdigen Gedanken be-
lebt. — (Durchaus schlecht: die Madonna in der Capelle des Dogen-d
palastes.)

Als tüchtiges monumental aufgefasstes Porträt ist die ehernee
sitzende Statue des Gelehrten Thomas von Ravenna über dem Portal
von S. Giulian etwa mit Tintoretto in Parallele zu setzen.

In welche Periode endlich gehört der Johannes über dem Tauf-f
becken in den Frari (Cap. S. Pietro, links)? Unplastisch componirt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0677" n="655"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Jacopo Sansovino.</hi></fw><lb/>
Erlöser wiederum eine nicht alltägliche Composition; man wird aber<lb/>
vielleicht die beiden einzelnen marmornen Engel auf den Seiten vor-<lb/>
ziehen.</p><lb/>
        <p>Derselbe Chor enthält auch noch die einzige Arbeit, in welcher<note place="right">a</note><lb/>
S. dem übermächtigen Einfluss Michelangelo&#x2019;s einen kenntlichen Tribut<lb/>
bezahlt hat, nämlich die sitzenden Bronzestatuetten der vier Evange-<lb/>
listen auf dem Geländer zunächst vor dem Hochaltar. (Die vier<lb/>
Kirchenlehrer sind von einem Spätern hinzugearbeitet.) Man wird<lb/>
ohne Schwierigkeit den &#x201E;Moses&#x201C; Michelangelo&#x2019;s als ihr Vorbild er-<lb/>
kennen, aber auch gestehen, dass sie von allen Nachahmungen die<lb/>
freiste und eigenthümlichste sind.</p><lb/>
        <p>Im <hi rendition="#g">Dogenpalast</hi> empfängt uns Sansovin mit den beiden Co-<note place="right">b</note><lb/>
lossalstatuen des Mars und Neptun, von welchen die Riesentreppe<lb/>
ihren Namen hat. Ihre unschöne Stellung, zumal beim Anblick von<lb/>
vorn, fällt schneller in die Augen als ihre guten Eigenschaften, welche<lb/>
erst demjenigen ganz klar werden, welcher sie in Gedanken mit den<lb/>
gleichzeitigen Trivialitäten eines Bandinelli vergleicht. Sie sind vor<lb/>
Allem noch anspruchlos und mit Überzeugung geschaffen, ohne ge-<lb/>
waltsame Motive und erborgte Musculatur; es sind noch echte, un-<lb/>
mittelbare Werke der Renaissance, eigene, wenn auch nicht voll-<lb/>
kommene Idealtypen eines schöpfungsfähigen Künstlers, der selbst<lb/>
mangelhafte Motive durch grossartige Behandlung zu heben wusste.</p><lb/>
        <p>Ein anderes bedeutendes Werk ist die thönerne vergoldete Ma-<note place="right">c</note><lb/>
donna im Innern der Loggia des Marcusthurmes; sie ermuthigt den<lb/>
unten hingeschmiegten kleinen Johannes durch Streicheln seines Haa-<lb/>
res, sich dem segnenden Christuskinde zu nähern. Verkleistert, be-<lb/>
stäubt, verstümmelt und von jeher etwas manierirt in den Formen,<lb/>
ist die Gruppe doch immer von einem liebenswürdigen Gedanken be-<lb/>
lebt. &#x2014; (Durchaus schlecht: die Madonna in der Capelle des Dogen-<note place="right">d</note><lb/>
palastes.)</p><lb/>
        <p>Als tüchtiges monumental aufgefasstes Porträt ist die eherne<note place="right">e</note><lb/>
sitzende Statue des Gelehrten Thomas von Ravenna über dem Portal<lb/>
von S. Giulian etwa mit Tintoretto in Parallele zu setzen.</p><lb/>
        <p>In welche Periode endlich gehört der Johannes über dem Tauf-<note place="right">f</note><lb/>
becken in den Frari (Cap. S. Pietro, links)? Unplastisch componirt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[655/0677] Jacopo Sansovino. Erlöser wiederum eine nicht alltägliche Composition; man wird aber vielleicht die beiden einzelnen marmornen Engel auf den Seiten vor- ziehen. Derselbe Chor enthält auch noch die einzige Arbeit, in welcher S. dem übermächtigen Einfluss Michelangelo’s einen kenntlichen Tribut bezahlt hat, nämlich die sitzenden Bronzestatuetten der vier Evange- listen auf dem Geländer zunächst vor dem Hochaltar. (Die vier Kirchenlehrer sind von einem Spätern hinzugearbeitet.) Man wird ohne Schwierigkeit den „Moses“ Michelangelo’s als ihr Vorbild er- kennen, aber auch gestehen, dass sie von allen Nachahmungen die freiste und eigenthümlichste sind. a Im Dogenpalast empfängt uns Sansovin mit den beiden Co- lossalstatuen des Mars und Neptun, von welchen die Riesentreppe ihren Namen hat. Ihre unschöne Stellung, zumal beim Anblick von vorn, fällt schneller in die Augen als ihre guten Eigenschaften, welche erst demjenigen ganz klar werden, welcher sie in Gedanken mit den gleichzeitigen Trivialitäten eines Bandinelli vergleicht. Sie sind vor Allem noch anspruchlos und mit Überzeugung geschaffen, ohne ge- waltsame Motive und erborgte Musculatur; es sind noch echte, un- mittelbare Werke der Renaissance, eigene, wenn auch nicht voll- kommene Idealtypen eines schöpfungsfähigen Künstlers, der selbst mangelhafte Motive durch grossartige Behandlung zu heben wusste. b Ein anderes bedeutendes Werk ist die thönerne vergoldete Ma- donna im Innern der Loggia des Marcusthurmes; sie ermuthigt den unten hingeschmiegten kleinen Johannes durch Streicheln seines Haa- res, sich dem segnenden Christuskinde zu nähern. Verkleistert, be- stäubt, verstümmelt und von jeher etwas manierirt in den Formen, ist die Gruppe doch immer von einem liebenswürdigen Gedanken be- lebt. — (Durchaus schlecht: die Madonna in der Capelle des Dogen- palastes.) c d Als tüchtiges monumental aufgefasstes Porträt ist die eherne sitzende Statue des Gelehrten Thomas von Ravenna über dem Portal von S. Giulian etwa mit Tintoretto in Parallele zu setzen. e In welche Periode endlich gehört der Johannes über dem Tauf- becken in den Frari (Cap. S. Pietro, links)? Unplastisch componirt, f

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/677
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/677>, abgerufen am 18.12.2024.