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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Jacopo Sansovino.
köstliche Bacchus in den Uffizien (Ende des 2. Ganges). Ju-a
belnd schreitet er aus, die Schale hoch aufhebend und anlachend, in
der andern Hand eine Traube, an welcher ein kleiner Panisk nascht.
Der Bacchus des Michelangelo steht zur Vergleichung in der Nähe;
an lebendiger Durchbildung der Einzelform ist er dem Jacopo's weit
überlegen; wer möchte aber nicht viel lieber die Arbeit Jacopo's er-
dacht
haben als die Michelangelo's? -- ich spreche von Unbethei-
ligten, denn die Künstler würden für letztern stimmen, weil sie mit
seinen Mitteln etwas Anderes anzufangen gedächten. (Der dritte
dortige Bacchus, eine kleinere Figur auf einem Fässchen stehend, istb
aus derselben Zeit, aber von keinem der Sansovino.)

In seinen venezianischen Arbeiten erscheint Jacopo sehr un-
gleich; Einzelnes ist unbegreiflich schwach, Anderes dagegen verräth
eine tüchtige selbständige Weiterbildung des vom Lehrer Überkom-
menen. Zwar neigt sich Jacopo bisweilen ebenso in das Allgemeine,
wie die meisten Nachfolger Andrea's, der seine schöne subjective
Wärme auf Niemanden vererben konnte; allein Jacopo ist nur wenig
befangen von den Manieren der römischen Malerschule, auch nicht
wesentlich von der Einwirkung Michelangelo's, die erst bei seinen
Schülern hie und da hervortritt; er war desshalb im Stande, nebst
seiner Schule in Venedig eine Art Nachblüthe der grossen Kunstzeit
aufrecht zu halten, die mit der Nachblüthe der Malerei (durch Paolo
Veronese, Tintoretto etc.) parallel geht und Jahrzehnde über seinen
Tod hinaus dauert.

Bei ihm wie bei den Schülern sind nicht die Linien, überhaupt
nicht das Bewusstsein der höhern plastischen Gesetze die starke Seite;
ihre Grösse liegt, wie bei den Malern, in einer gewissen freien Le-
bensfülle, welche über den Naturalismus des Details hinaus ist; sie
liegt in der Darstellung einer ruhigen, in sich selbst (ohne erzwungen
interessante Motive) bedeutenden Existenz. Ihre Arbeiten können von
sehr unstatuarischer Anlage und doch im Styl ergreifend sein; von
allen Zeitgenossen sind diese Venezianer am wenigsten conventionell
in der Ausführung und am wenigsten affectirt in der Anlage. Hierin
liegt wenigstens ein grosses negatives Verdienst Sansovino's; er ist
der unbefangenste unter den Meistern der Zeit von 1530--70.

Jacopo Sansovino.
köstliche Bacchus in den Uffizien (Ende des 2. Ganges). Ju-a
belnd schreitet er aus, die Schale hoch aufhebend und anlachend, in
der andern Hand eine Traube, an welcher ein kleiner Panisk nascht.
Der Bacchus des Michelangelo steht zur Vergleichung in der Nähe;
an lebendiger Durchbildung der Einzelform ist er dem Jacopo’s weit
überlegen; wer möchte aber nicht viel lieber die Arbeit Jacopo’s er-
dacht
haben als die Michelangelo’s? — ich spreche von Unbethei-
ligten, denn die Künstler würden für letztern stimmen, weil sie mit
seinen Mitteln etwas Anderes anzufangen gedächten. (Der dritte
dortige Bacchus, eine kleinere Figur auf einem Fässchen stehend, istb
aus derselben Zeit, aber von keinem der Sansovino.)

In seinen venezianischen Arbeiten erscheint Jacopo sehr un-
gleich; Einzelnes ist unbegreiflich schwach, Anderes dagegen verräth
eine tüchtige selbständige Weiterbildung des vom Lehrer Überkom-
menen. Zwar neigt sich Jacopo bisweilen ebenso in das Allgemeine,
wie die meisten Nachfolger Andrea’s, der seine schöne subjective
Wärme auf Niemanden vererben konnte; allein Jacopo ist nur wenig
befangen von den Manieren der römischen Malerschule, auch nicht
wesentlich von der Einwirkung Michelangelo’s, die erst bei seinen
Schülern hie und da hervortritt; er war desshalb im Stande, nebst
seiner Schule in Venedig eine Art Nachblüthe der grossen Kunstzeit
aufrecht zu halten, die mit der Nachblüthe der Malerei (durch Paolo
Veronese, Tintoretto etc.) parallel geht und Jahrzehnde über seinen
Tod hinaus dauert.

Bei ihm wie bei den Schülern sind nicht die Linien, überhaupt
nicht das Bewusstsein der höhern plastischen Gesetze die starke Seite;
ihre Grösse liegt, wie bei den Malern, in einer gewissen freien Le-
bensfülle, welche über den Naturalismus des Details hinaus ist; sie
liegt in der Darstellung einer ruhigen, in sich selbst (ohne erzwungen
interessante Motive) bedeutenden Existenz. Ihre Arbeiten können von
sehr unstatuarischer Anlage und doch im Styl ergreifend sein; von
allen Zeitgenossen sind diese Venezianer am wenigsten conventionell
in der Ausführung und am wenigsten affectirt in der Anlage. Hierin
liegt wenigstens ein grosses negatives Verdienst Sansovino’s; er ist
der unbefangenste unter den Meistern der Zeit von 1530—70.

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[653/0675] Jacopo Sansovino. köstliche Bacchus in den Uffizien (Ende des 2. Ganges). Ju- belnd schreitet er aus, die Schale hoch aufhebend und anlachend, in der andern Hand eine Traube, an welcher ein kleiner Panisk nascht. Der Bacchus des Michelangelo steht zur Vergleichung in der Nähe; an lebendiger Durchbildung der Einzelform ist er dem Jacopo’s weit überlegen; wer möchte aber nicht viel lieber die Arbeit Jacopo’s er- dacht haben als die Michelangelo’s? — ich spreche von Unbethei- ligten, denn die Künstler würden für letztern stimmen, weil sie mit seinen Mitteln etwas Anderes anzufangen gedächten. (Der dritte dortige Bacchus, eine kleinere Figur auf einem Fässchen stehend, ist aus derselben Zeit, aber von keinem der Sansovino.) a b In seinen venezianischen Arbeiten erscheint Jacopo sehr un- gleich; Einzelnes ist unbegreiflich schwach, Anderes dagegen verräth eine tüchtige selbständige Weiterbildung des vom Lehrer Überkom- menen. Zwar neigt sich Jacopo bisweilen ebenso in das Allgemeine, wie die meisten Nachfolger Andrea’s, der seine schöne subjective Wärme auf Niemanden vererben konnte; allein Jacopo ist nur wenig befangen von den Manieren der römischen Malerschule, auch nicht wesentlich von der Einwirkung Michelangelo’s, die erst bei seinen Schülern hie und da hervortritt; er war desshalb im Stande, nebst seiner Schule in Venedig eine Art Nachblüthe der grossen Kunstzeit aufrecht zu halten, die mit der Nachblüthe der Malerei (durch Paolo Veronese, Tintoretto etc.) parallel geht und Jahrzehnde über seinen Tod hinaus dauert. Bei ihm wie bei den Schülern sind nicht die Linien, überhaupt nicht das Bewusstsein der höhern plastischen Gesetze die starke Seite; ihre Grösse liegt, wie bei den Malern, in einer gewissen freien Le- bensfülle, welche über den Naturalismus des Details hinaus ist; sie liegt in der Darstellung einer ruhigen, in sich selbst (ohne erzwungen interessante Motive) bedeutenden Existenz. Ihre Arbeiten können von sehr unstatuarischer Anlage und doch im Styl ergreifend sein; von allen Zeitgenossen sind diese Venezianer am wenigsten conventionell in der Ausführung und am wenigsten affectirt in der Anlage. Hierin liegt wenigstens ein grosses negatives Verdienst Sansovino’s; er ist der unbefangenste unter den Meistern der Zeit von 1530—70.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/675>, abgerufen am 18.12.2024.