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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener.
wie lässt er den Schleier der Madonna flattern! Aber auch welche
Schönheit in den Köpfen und in der Kindergestalt des Täufers Jo-
hannes, der seine Mutter begleitet!

Die späteste Zeit Begarelli's glaube ich (abgesehen von jenem
Altar des Querbaues in S. Pietro) zu erkennen in der grossen Gruppe
avon S. Domenico zu Modena (Durchgang aus der Kirche in die
untere Halle des Academiegebäudes). Es ist die Scene von Martha
und Maria, letztere vor Christus knieend, erstere sammt zwei Mägden
rechts, zwei Jünger links. Unverkennbar wirkt hier der Geist der
römischen Malerschule auf den Künstler ein, wie schon die Draperien
beweisen; auch macht sich (z. B. in der Martha, die auch als Ein-
zelstatue gut ist) der Gegensatz der entsprechenden Theile des Körpers
auf bewusstere Weise geltend. Die Köpfe sind noch meist von naiver
Schönheit.

b

(Ein kleines Presepio B.'s im Dom, unter dem 4. Altar links, in
der Regel verschlossen, hat der Verf. nicht gesehen.)

Wahrscheinlich hat B. seine Gruppen nicht bemalt. Auch wo die
jetzige Beweissung abspringt, kömmt keine Farbe zum Vorschein 1).


Die meisten oberitalienischen Sculptoren der Zeit suchen, im Ge-
gensatz zu diesem entschlossenen Realisten, ihre heimische Befangen-
heit durch den von Florenz und Rom ausgehenden Idealismus auf-
zubessern. Welche von ihnen die Werke A. Sansovino's und die
ebenfalls sehr einflussreichen Deckengemälde der sixtinischen Capelle
gekannt haben, ist im Einzelnen nicht immer leicht anzugeben; bei
mehrern sind diese Einwirkungen ganz deutlich nachweisbar; Michel-
angelo wirkte schon lange als Maler auf die Sculptur, ehe seine
plastischen Hauptwerke zu Stande kamen. -- Von den 1520er Jahren
an muss dann namentlich die Anwesenheit des Tribolo in Bologna der
römisch-toscanischen Richtung den Sieg verschafft haben.


1) Schon Vasari sagt, er habe ihnen bloss Marmorfarbe gegeben. Er spricht
davon u. a. bei Anlass eines Besuches des Michelangelo in Modena und be-
richtet dessen begeistertes Wort: "Wenn dieser Thon Marmor würde, dann
wehe den antiken Statuen!"

Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener.
wie lässt er den Schleier der Madonna flattern! Aber auch welche
Schönheit in den Köpfen und in der Kindergestalt des Täufers Jo-
hannes, der seine Mutter begleitet!

Die späteste Zeit Begarelli’s glaube ich (abgesehen von jenem
Altar des Querbaues in S. Pietro) zu erkennen in der grossen Gruppe
avon S. Domenico zu Modena (Durchgang aus der Kirche in die
untere Halle des Academiegebäudes). Es ist die Scene von Martha
und Maria, letztere vor Christus knieend, erstere sammt zwei Mägden
rechts, zwei Jünger links. Unverkennbar wirkt hier der Geist der
römischen Malerschule auf den Künstler ein, wie schon die Draperien
beweisen; auch macht sich (z. B. in der Martha, die auch als Ein-
zelstatue gut ist) der Gegensatz der entsprechenden Theile des Körpers
auf bewusstere Weise geltend. Die Köpfe sind noch meist von naiver
Schönheit.

b

(Ein kleines Presepio B.’s im Dom, unter dem 4. Altar links, in
der Regel verschlossen, hat der Verf. nicht gesehen.)

Wahrscheinlich hat B. seine Gruppen nicht bemalt. Auch wo die
jetzige Beweissung abspringt, kömmt keine Farbe zum Vorschein 1).


Die meisten oberitalienischen Sculptoren der Zeit suchen, im Ge-
gensatz zu diesem entschlossenen Realisten, ihre heimische Befangen-
heit durch den von Florenz und Rom ausgehenden Idealismus auf-
zubessern. Welche von ihnen die Werke A. Sansovino’s und die
ebenfalls sehr einflussreichen Deckengemälde der sixtinischen Capelle
gekannt haben, ist im Einzelnen nicht immer leicht anzugeben; bei
mehrern sind diese Einwirkungen ganz deutlich nachweisbar; Michel-
angelo wirkte schon lange als Maler auf die Sculptur, ehe seine
plastischen Hauptwerke zu Stande kamen. — Von den 1520er Jahren
an muss dann namentlich die Anwesenheit des Tribolo in Bologna der
römisch-toscanischen Richtung den Sieg verschafft haben.


1) Schon Vasari sagt, er habe ihnen bloss Marmorfarbe gegeben. Er spricht
davon u. a. bei Anlass eines Besuches des Michelangelo in Modena und be-
richtet dessen begeistertes Wort: „Wenn dieser Thon Marmor würde, dann
wehe den antiken Statuen!“
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[648/0670] Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener. wie lässt er den Schleier der Madonna flattern! Aber auch welche Schönheit in den Köpfen und in der Kindergestalt des Täufers Jo- hannes, der seine Mutter begleitet! Die späteste Zeit Begarelli’s glaube ich (abgesehen von jenem Altar des Querbaues in S. Pietro) zu erkennen in der grossen Gruppe von S. Domenico zu Modena (Durchgang aus der Kirche in die untere Halle des Academiegebäudes). Es ist die Scene von Martha und Maria, letztere vor Christus knieend, erstere sammt zwei Mägden rechts, zwei Jünger links. Unverkennbar wirkt hier der Geist der römischen Malerschule auf den Künstler ein, wie schon die Draperien beweisen; auch macht sich (z. B. in der Martha, die auch als Ein- zelstatue gut ist) der Gegensatz der entsprechenden Theile des Körpers auf bewusstere Weise geltend. Die Köpfe sind noch meist von naiver Schönheit. a (Ein kleines Presepio B.’s im Dom, unter dem 4. Altar links, in der Regel verschlossen, hat der Verf. nicht gesehen.) Wahrscheinlich hat B. seine Gruppen nicht bemalt. Auch wo die jetzige Beweissung abspringt, kömmt keine Farbe zum Vorschein 1). Die meisten oberitalienischen Sculptoren der Zeit suchen, im Ge- gensatz zu diesem entschlossenen Realisten, ihre heimische Befangen- heit durch den von Florenz und Rom ausgehenden Idealismus auf- zubessern. Welche von ihnen die Werke A. Sansovino’s und die ebenfalls sehr einflussreichen Deckengemälde der sixtinischen Capelle gekannt haben, ist im Einzelnen nicht immer leicht anzugeben; bei mehrern sind diese Einwirkungen ganz deutlich nachweisbar; Michel- angelo wirkte schon lange als Maler auf die Sculptur, ehe seine plastischen Hauptwerke zu Stande kamen. — Von den 1520er Jahren an muss dann namentlich die Anwesenheit des Tribolo in Bologna der römisch-toscanischen Richtung den Sieg verschafft haben. 1) Schon Vasari sagt, er habe ihnen bloss Marmorfarbe gegeben. Er spricht davon u. a. bei Anlass eines Besuches des Michelangelo in Modena und be- richtet dessen begeistertes Wort: „Wenn dieser Thon Marmor würde, dann wehe den antiken Statuen!“

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 648. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/670>, abgerufen am 16.07.2024.