Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei- nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.
Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp- tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi- sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor- den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth- wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my- thologischen Bewusstseins.
Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge- rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni- sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an. Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen- hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp- tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-
Sculptur des XVI. Jahrhunderts.
[Abbildung]
Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei- nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.
Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp- tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi- sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor- den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth- wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my- thologischen Bewusstseins.
Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge- rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni- sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an. Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen- hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp- tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0659"n="637"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Sculptur des XVI. Jahrhunderts.</hi></fw><lb/><figure/><lb/><p>Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht<lb/>
die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei-<lb/>
nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so<lb/>
lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.</p><lb/><p>Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp-<lb/>
tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi-<lb/>
sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor-<lb/>
den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur<lb/>
halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth-<lb/>
wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten<lb/>
jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my-<lb/>
thologischen Bewusstseins.</p><lb/><p>Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine <hirendition="#g">freiere</hi> Kunst als<lb/>
sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab<lb/>
des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen<lb/>
Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge-<lb/>
rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es<lb/>
statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni-<lb/>
sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der<lb/>
letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung<lb/>
noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an.<lb/>
Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen-<lb/>
hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter<lb/>
an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp-<lb/>
tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der<lb/>
Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und<lb/>
Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die<lb/>
Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das<lb/>
Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[637/0659]
Sculptur des XVI. Jahrhunderts.
[Abbildung]
Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht
die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei-
nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so
lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.
Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp-
tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi-
sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor-
den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur
halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth-
wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten
jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my-
thologischen Bewusstseins.
Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als
sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab
des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen
Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge-
rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es
statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni-
sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der
letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung
noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an.
Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen-
hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter
an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp-
tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der
Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und
Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die
Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das
Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/659>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.