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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XVI. Jahrhunderts.
[Abbildung]

Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht
die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei-
nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so
lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.

Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp-
tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi-
sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor-
den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur
halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth-
wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten
jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my-
thologischen Bewusstseins.

Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als
sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab
des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen
Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge-
rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es
statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni-
sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der
letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung
noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an.
Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen-
hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter
an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp-
tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der
Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und
Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die
Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das
Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-

Sculptur des XVI. Jahrhunderts.
[Abbildung]

Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht
die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei-
nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so
lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen.

Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp-
tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi-
sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor-
den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur
halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth-
wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten
jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my-
thologischen Bewusstseins.

Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als
sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab
des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen
Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge-
rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es
statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni-
sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der
letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung
noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an.
Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen-
hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter
an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp-
tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der
Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und
Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die
Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das
Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-

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[637/0659] Sculptur des XVI. Jahrhunderts. [Abbildung] Wenn die grossen Bildhauer des XVI. Jahrh. bei weitem nicht die grossen Maler dieser Zeit aufwiegen, wenn sie nicht zu halten schei- nen, was das XIV. und XV. Jahrh. in der Sculptur versprach, so lag die Schuld lange nicht bloss an ihnen. Die unsichtbaren Schranken, welche zunächst die kirchliche Sculp- tur umgeben und ihr nie gestatten, das zu werden, was die griechi- sche Tempelsculptur war, sind schon oben mehrfach angedeutet wor- den. An ihre Seite trat jetzt allerdings eine profane und eine nur halbkirchliche allegorische Sculptur, allein dieser fehlte die innere Noth- wendigkeit, sie war und blieb ein ästhetisches Belieben der Gebildeten jener Zeit, nicht eine nothwendige Äusserung eines allverbreiteten my- thologischen Bewusstseins. Dafür wird die Sculptur im XVI. Jahrh. eine freiere Kunst als sie je gewesen war. Nehmen wir z. B. die Grabmäler als Massstab des Verhaltens der beiden Künste an, so herrscht in der gothischen Zeit die Architektur völlig vor; das Bildwerk scheint um des Bauge- rüstes willen da zu sein. Zur Zeit der frühern Renaissance ist es statt der Architektur schon eher nur die Decoration, welche als Ni- sche, als Triumphbogen die Sculpturen einfasst; wohl ist sie um der letztern willen vorhanden und dennoch gehört die Gesammtwirkung noch wesentlich dem decorativen, nicht dem plastischen Gebiet an. Dieser bisher immer noch mehr oder weniger bindende Zusammen- hang mit der Architektur nimmt jetzt einen ganz andern Charakter an; die beiden Künste brauchen einander fortwährend, allein die Sculp- tur ist nicht mehr das Kind vom Hause, sondern sie scheint bei der Architektur zur Miethe zu wohnen; man überlässt ihr Nischen und Balustraden, damit mag sie anfangen, was sie will, wenn sie nur die Baulinien nicht auffallend stört. Wo sie kann, richtet sie sogar das Gebäude nach ihren Bedingungen ein. Ganze bisher mehr architek-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/659>, abgerufen am 16.07.2024.