auch sie erhielt im Süden ungleich weitere Räume und freiere Auf- gaben als im Norden.
Auf der Grenze des neuen Styles stehen die biblischen Reliefs, mit welchen die untern Theile der Fassade von Orvieto (seita 1290) bedeckt sind. Es ist noch die Schule Niccolo's, doch schon vorwiegend unter dem Einfluss Giovanni's. Eine Anzahl ihm selbst zugeschriebener Scenen zeigen zuerst in der italienischen Kunst eine selbständige Composition im höhern Sinne mit kenntlichem Linien- gefühl; diess wohl eher eine Frucht der Thätigkeit seines Vaters als der nordischen Einwirkung. Aber schon zeigt sich auch der Cha- rakteristiker und der Darsteller des dramatischen Ausdruckes um jeden Preis, dem später auch das Heftige und Hastige zur Gewohn- heit wird.
Schon etwas früher (um 1280) hatte er die untere Schale desb grossen Brunnens in Perugia1) mit jener Masse von biblischen, al- legorischen und parabolischen Relieffiguren geschmückt. Vortrefflich lebendige Bewegungsmotive und glückliche Anordnung im Raum geben ihnen einen höhern Werth als die noch etwas schwankende plastische Behandlung.
Nur wenige sichere Werke sind aus Giovanni's reifster Zeit vor- handen. Als Architekt in ganz Italien beschäftigt, brachte er wohl auch seine plastischen Grundsätze überall hin (was freilich eher zu vermuthen als zu beweisen ist), behielt aber gewiss wenig Musse für eigene Arbeiten.
Der Hochaltar im Dom von Arezzo ist in decorativer Be-c ziehung ein merkwürdiges Denkmal der Ziellosigkeit, welche dem Italienisch-Gothischen anhing, als es die Consequenzen seiner nordi- schen Vorbilder verschmähte (S. 163); neben deutschen Altarwerken, welche die Kirche selbst in leichter, idealer Durchsichtigkeit nach- ahmen, könnte er auf keine Weise bestehen. In den Reliefs und Statuetten aber, womit das Werk bekleidet ist, erscheint Giovanni Pisano als Bildhauer auf seiner vollen Höhe. Es ist kaum möglich, diese Geschichten der Ortsheiligen und der Maria, diese Halbfiguren
1) Noch zwei Jahre vorher hatte auch der alte Niccolo an diesem Brunnen ge- arbeitet -- was? weiss man nicht.
Giovanni Pisano.
auch sie erhielt im Süden ungleich weitere Räume und freiere Auf- gaben als im Norden.
Auf der Grenze des neuen Styles stehen die biblischen Reliefs, mit welchen die untern Theile der Fassade von Orvieto (seita 1290) bedeckt sind. Es ist noch die Schule Niccolò’s, doch schon vorwiegend unter dem Einfluss Giovanni’s. Eine Anzahl ihm selbst zugeschriebener Scenen zeigen zuerst in der italienischen Kunst eine selbständige Composition im höhern Sinne mit kenntlichem Linien- gefühl; diess wohl eher eine Frucht der Thätigkeit seines Vaters als der nordischen Einwirkung. Aber schon zeigt sich auch der Cha- rakteristiker und der Darsteller des dramatischen Ausdruckes um jeden Preis, dem später auch das Heftige und Hastige zur Gewohn- heit wird.
Schon etwas früher (um 1280) hatte er die untere Schale desb grossen Brunnens in Perugia1) mit jener Masse von biblischen, al- legorischen und parabolischen Relieffiguren geschmückt. Vortrefflich lebendige Bewegungsmotive und glückliche Anordnung im Raum geben ihnen einen höhern Werth als die noch etwas schwankende plastische Behandlung.
Nur wenige sichere Werke sind aus Giovanni’s reifster Zeit vor- handen. Als Architekt in ganz Italien beschäftigt, brachte er wohl auch seine plastischen Grundsätze überall hin (was freilich eher zu vermuthen als zu beweisen ist), behielt aber gewiss wenig Musse für eigene Arbeiten.
Der Hochaltar im Dom von Arezzo ist in decorativer Be-c ziehung ein merkwürdiges Denkmal der Ziellosigkeit, welche dem Italienisch-Gothischen anhing, als es die Consequenzen seiner nordi- schen Vorbilder verschmähte (S. 163); neben deutschen Altarwerken, welche die Kirche selbst in leichter, idealer Durchsichtigkeit nach- ahmen, könnte er auf keine Weise bestehen. In den Reliefs und Statuetten aber, womit das Werk bekleidet ist, erscheint Giovanni Pisano als Bildhauer auf seiner vollen Höhe. Es ist kaum möglich, diese Geschichten der Ortsheiligen und der Maria, diese Halbfiguren
1) Noch zwei Jahre vorher hatte auch der alte Niccolò an diesem Brunnen ge- arbeitet — was? weiss man nicht.
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Giovanni Pisano.
auch sie erhielt im Süden ungleich weitere Räume und freiere Auf-
gaben als im Norden.
Auf der Grenze des neuen Styles stehen die biblischen Reliefs,
mit welchen die untern Theile der Fassade von Orvieto (seit
1290) bedeckt sind. Es ist noch die Schule Niccolò’s, doch schon
vorwiegend unter dem Einfluss Giovanni’s. Eine Anzahl ihm selbst
zugeschriebener Scenen zeigen zuerst in der italienischen Kunst eine
selbständige Composition im höhern Sinne mit kenntlichem Linien-
gefühl; diess wohl eher eine Frucht der Thätigkeit seines Vaters als
der nordischen Einwirkung. Aber schon zeigt sich auch der Cha-
rakteristiker und der Darsteller des dramatischen Ausdruckes um
jeden Preis, dem später auch das Heftige und Hastige zur Gewohn-
heit wird.
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Schon etwas früher (um 1280) hatte er die untere Schale des
grossen Brunnens in Perugia 1) mit jener Masse von biblischen, al-
legorischen und parabolischen Relieffiguren geschmückt. Vortrefflich
lebendige Bewegungsmotive und glückliche Anordnung im Raum geben
ihnen einen höhern Werth als die noch etwas schwankende plastische
Behandlung.
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Nur wenige sichere Werke sind aus Giovanni’s reifster Zeit vor-
handen. Als Architekt in ganz Italien beschäftigt, brachte er wohl
auch seine plastischen Grundsätze überall hin (was freilich eher zu
vermuthen als zu beweisen ist), behielt aber gewiss wenig Musse für
eigene Arbeiten.
Der Hochaltar im Dom von Arezzo ist in decorativer Be-
ziehung ein merkwürdiges Denkmal der Ziellosigkeit, welche dem
Italienisch-Gothischen anhing, als es die Consequenzen seiner nordi-
schen Vorbilder verschmähte (S. 163); neben deutschen Altarwerken,
welche die Kirche selbst in leichter, idealer Durchsichtigkeit nach-
ahmen, könnte er auf keine Weise bestehen. In den Reliefs und
Statuetten aber, womit das Werk bekleidet ist, erscheint Giovanni
Pisano als Bildhauer auf seiner vollen Höhe. Es ist kaum möglich,
diese Geschichten der Ortsheiligen und der Maria, diese Halbfiguren
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1) Noch zwei Jahre vorher hatte auch der alte Niccolò an diesem Brunnen ge-
arbeitet — was? weiss man nicht.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/589>, abgerufen am 12.12.2024.
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