Solange man genöthigt ist, die florentinischen Exemplare zu Grunde zu legen, wird man das Ganze nie in einer Giebelgruppe vereinigen können. Das Dasein und der grosse Massstab des Pädagogen macht diess unmöglich. Ich glaube, dass er für dieses oder ein ähnliches Exemplar von einem römischen Wiederholer, der zwei Gruppen aus dem Ganzen machte, geschaffen worden ist; man brauchte eine grosse Figur als Mittelpunkt für die Söhne, und in dieser zweiten Redaction wurde dann das Werk weiter wiederholt. Das abscheuliche alte Weib in der capitolinischen Sammlung, das man als Amme mit den Niobiden in Verbindung bringt, kommt allerdings an den Sarcophagen, z. B. ademjenigen im Dogenpalast zu Venedig, wieder vor, und mag in der That an irgend einem andern, wieder anders angeordneten Exemplar der Gruppe als Gegenstück des Pädagogen gedient haben. In dem florentinischen Exemplar fände sie schon des kleinen Massstabes we- gen kaum eine Stelle. Ob die beiden fraglichen Gruppen als Giebel- gruppen eines Tempels dienten, bleibt höchst ungewiss; sie konnten auf irgend eine Weise im Freien arrangirt sein, und für diesen Fall erinnere man sich wieder an das dabei gefundene Pferd 1) und an die beiden Ringer. Letztere (s. oben) sind wohl sicher keine Niobiden gewesen, allein man wusste im Alterthum, dass auch zwei Söhne der Niobe im Akt des Ringens abgebildet worden waren, und der Er- werber oder Besitzer des (jetzt florentinischen) Vorrathes stellte zu seinen Niobesöhnen auch die beste Ringergruppe die er besass oder bekommen konnte. Wer den Pädagogen hinzuthat, der war auch weitern Ergänzungen gewiss nicht abgeneigt.
Daran aber wird man kaum zweifeln dürfen, dass das alte Ori- ginal die Giebelgruppe eines Tempels bildete, und zwar eine einzige. Man beachte die ausschliessliche Berechnung der meisten Statuen auf den Anblick von vorn.
Unter den florentinischen Figuren mögen den Urbildern am näch- sten stehen: die grösste Tochter; die Mutter mit der jüngsten Tochter; der jüngste Sohn; der bergan flüchtende Sohn (mit dem Fusse vor dem Felsstück); der rettende Sohn mit dem Gewand über dem Haupt
1)*An dem venezianischen Sarcophag sind drei Söhne reitend und einer vom Pferde stürzend gebildet. Dem Pädagogen entspricht ein Mann im Hirtenkleid.
Antike Sculptur. Gruppen.
Solange man genöthigt ist, die florentinischen Exemplare zu Grunde zu legen, wird man das Ganze nie in einer Giebelgruppe vereinigen können. Das Dasein und der grosse Massstab des Pädagogen macht diess unmöglich. Ich glaube, dass er für dieses oder ein ähnliches Exemplar von einem römischen Wiederholer, der zwei Gruppen aus dem Ganzen machte, geschaffen worden ist; man brauchte eine grosse Figur als Mittelpunkt für die Söhne, und in dieser zweiten Redaction wurde dann das Werk weiter wiederholt. Das abscheuliche alte Weib in der capitolinischen Sammlung, das man als Amme mit den Niobiden in Verbindung bringt, kommt allerdings an den Sarcophagen, z. B. ademjenigen im Dogenpalast zu Venedig, wieder vor, und mag in der That an irgend einem andern, wieder anders angeordneten Exemplar der Gruppe als Gegenstück des Pädagogen gedient haben. In dem florentinischen Exemplar fände sie schon des kleinen Massstabes we- gen kaum eine Stelle. Ob die beiden fraglichen Gruppen als Giebel- gruppen eines Tempels dienten, bleibt höchst ungewiss; sie konnten auf irgend eine Weise im Freien arrangirt sein, und für diesen Fall erinnere man sich wieder an das dabei gefundene Pferd 1) und an die beiden Ringer. Letztere (s. oben) sind wohl sicher keine Niobiden gewesen, allein man wusste im Alterthum, dass auch zwei Söhne der Niobe im Akt des Ringens abgebildet worden waren, und der Er- werber oder Besitzer des (jetzt florentinischen) Vorrathes stellte zu seinen Niobesöhnen auch die beste Ringergruppe die er besass oder bekommen konnte. Wer den Pädagogen hinzuthat, der war auch weitern Ergänzungen gewiss nicht abgeneigt.
Daran aber wird man kaum zweifeln dürfen, dass das alte Ori- ginal die Giebelgruppe eines Tempels bildete, und zwar eine einzige. Man beachte die ausschliessliche Berechnung der meisten Statuen auf den Anblick von vorn.
Unter den florentinischen Figuren mögen den Urbildern am näch- sten stehen: die grösste Tochter; die Mutter mit der jüngsten Tochter; der jüngste Sohn; der bergan flüchtende Sohn (mit dem Fusse vor dem Felsstück); der rettende Sohn mit dem Gewand über dem Haupt
1)*An dem venezianischen Sarcophag sind drei Söhne reitend und einer vom Pferde stürzend gebildet. Dem Pädagogen entspricht ein Mann im Hirtenkleid.
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Antike Sculptur. Gruppen.
Solange man genöthigt ist, die florentinischen Exemplare zu Grunde
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können. Das Dasein und der grosse Massstab des Pädagogen macht
diess unmöglich. Ich glaube, dass er für dieses oder ein ähnliches
Exemplar von einem römischen Wiederholer, der zwei Gruppen aus
dem Ganzen machte, geschaffen worden ist; man brauchte eine grosse
Figur als Mittelpunkt für die Söhne, und in dieser zweiten Redaction
wurde dann das Werk weiter wiederholt. Das abscheuliche alte Weib
in der capitolinischen Sammlung, das man als Amme mit den Niobiden
in Verbindung bringt, kommt allerdings an den Sarcophagen, z. B.
demjenigen im Dogenpalast zu Venedig, wieder vor, und mag in der
That an irgend einem andern, wieder anders angeordneten Exemplar
der Gruppe als Gegenstück des Pädagogen gedient haben. In dem
florentinischen Exemplar fände sie schon des kleinen Massstabes we-
gen kaum eine Stelle. Ob die beiden fraglichen Gruppen als Giebel-
gruppen eines Tempels dienten, bleibt höchst ungewiss; sie konnten
auf irgend eine Weise im Freien arrangirt sein, und für diesen Fall
erinnere man sich wieder an das dabei gefundene Pferd 1) und an die
beiden Ringer. Letztere (s. oben) sind wohl sicher keine Niobiden
gewesen, allein man wusste im Alterthum, dass auch zwei Söhne der
Niobe im Akt des Ringens abgebildet worden waren, und der Er-
werber oder Besitzer des (jetzt florentinischen) Vorrathes stellte zu
seinen Niobesöhnen auch die beste Ringergruppe die er besass oder
bekommen konnte. Wer den Pädagogen hinzuthat, der war auch
weitern Ergänzungen gewiss nicht abgeneigt.
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Daran aber wird man kaum zweifeln dürfen, dass das alte Ori-
ginal die Giebelgruppe eines Tempels bildete, und zwar eine einzige.
Man beachte die ausschliessliche Berechnung der meisten Statuen auf
den Anblick von vorn.
Unter den florentinischen Figuren mögen den Urbildern am näch-
sten stehen: die grösste Tochter; die Mutter mit der jüngsten Tochter;
der jüngste Sohn; der bergan flüchtende Sohn (mit dem Fusse vor
dem Felsstück); der rettende Sohn mit dem Gewand über dem Haupt
1) An dem venezianischen Sarcophag sind drei Söhne reitend und einer vom
Pferde stürzend gebildet. Dem Pädagogen entspricht ein Mann im Hirtenkleid.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/528>, abgerufen am 18.12.2024.
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