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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Niobe.
auch hicher; -- Galeria delle Statue: eine niedersinkende Tochter,a
nebst dem Knie eines Bruders, auf das sie sich stützt (auch als Ce-
phalus und Procris bezeichnet); -- oberer Gang: ein fliehender Sohn.b

Museo capitolino: obere Galerie: ein fallender und ein knieenderc
Sohn, auch zwei Töchter, wovon die eine als Psyche 1) umgebildet
ist; ein colossaler Kopf der Mutter, nebst einem oder zwei andern
Köpfen dieses Typus; -- grosser Saal: die Statue eines alten Weibes,d
welche man für die Amme der Töchter ausgiebt.

Museum von Neapel: Halle des Tiberius: vielleicht ist eine ste-e
hende, ganz bekleidete Statue eine Niobide.

Ausserhalb Italiens ist der sog. Ilioneus in der Münchner Glypto-
thek nach allgemeiner Ansicht ein Niobide und zwar gemäss der Vor-
trefflichkeit der Arbeit (die alle florentinischen etc. Figuren weit über-
trifft) vielleicht ein echter Bestandtheil der Originalgruppe.

Andere Statuen, welche theils Niobiden gewesen sind, theils durch
die Restauratoren dazu gemacht wurden, könnten wir nicht ohne
Weitschweifigkeit und Unsicherheit besprechen.

Wie man sich nun diesen Vorrath als Ganzes zu denken habe,
darüber gehen die Ansichten dergestalt auseinander, dass nicht einmal
durchgängig die Giebelgruppe eines Tempels darin anerkannt wird,
während Manche aus nicht zu verachtenden Gründen den Vorrath in
zwei Giebelgruppen vertheilen. In diesem Fall bestände der Mittel-
punkt in der einen aus der Mutter, in der andern aus dem Pädagogen;
jene würde die Töchter, diese die Söhne enthalten haben.

Das echte alte griechische Meisterwerk wird man sich nie mehr
genau vergegenwärtigen können. Schon die alten römischen Wieder-
holer sind zu willkürlich damit umgegangen und haben daneben auch
einzelne Motive z. B. als Musen, als Psychen benützt. Eine Wieder-
holung des Ganzen war so kostspielig, dass mehr als ein Besteller
sich vielleicht mit einer Art von Excerpt begnügte; wer ein paar
Statuen hatte, liess sich vielleicht die fehlenden hinzuarbeiten so gut
er sie um billigen Preis haben konnte. Gewiss sind auch einzelne
Figuren und Köpfe um der Schönheit des Motives willen besonders
ausgeführt worden.

1) Eine gegeisselte Psyche. [Br.]

Niobe.
auch hicher; — Galeria delle Statue: eine niedersinkende Tochter,a
nebst dem Knie eines Bruders, auf das sie sich stützt (auch als Ce-
phalus und Procris bezeichnet); — oberer Gang: ein fliehender Sohn.b

Museo capitolino: obere Galerie: ein fallender und ein knieenderc
Sohn, auch zwei Töchter, wovon die eine als Psyche 1) umgebildet
ist; ein colossaler Kopf der Mutter, nebst einem oder zwei andern
Köpfen dieses Typus; — grosser Saal: die Statue eines alten Weibes,d
welche man für die Amme der Töchter ausgiebt.

Museum von Neapel: Halle des Tiberius: vielleicht ist eine ste-e
hende, ganz bekleidete Statue eine Niobide.

Ausserhalb Italiens ist der sog. Ilioneus in der Münchner Glypto-
thek nach allgemeiner Ansicht ein Niobide und zwar gemäss der Vor-
trefflichkeit der Arbeit (die alle florentinischen etc. Figuren weit über-
trifft) vielleicht ein echter Bestandtheil der Originalgruppe.

Andere Statuen, welche theils Niobiden gewesen sind, theils durch
die Restauratoren dazu gemacht wurden, könnten wir nicht ohne
Weitschweifigkeit und Unsicherheit besprechen.

Wie man sich nun diesen Vorrath als Ganzes zu denken habe,
darüber gehen die Ansichten dergestalt auseinander, dass nicht einmal
durchgängig die Giebelgruppe eines Tempels darin anerkannt wird,
während Manche aus nicht zu verachtenden Gründen den Vorrath in
zwei Giebelgruppen vertheilen. In diesem Fall bestände der Mittel-
punkt in der einen aus der Mutter, in der andern aus dem Pädagogen;
jene würde die Töchter, diese die Söhne enthalten haben.

Das echte alte griechische Meisterwerk wird man sich nie mehr
genau vergegenwärtigen können. Schon die alten römischen Wieder-
holer sind zu willkürlich damit umgegangen und haben daneben auch
einzelne Motive z. B. als Musen, als Psychen benützt. Eine Wieder-
holung des Ganzen war so kostspielig, dass mehr als ein Besteller
sich vielleicht mit einer Art von Excerpt begnügte; wer ein paar
Statuen hatte, liess sich vielleicht die fehlenden hinzuarbeiten so gut
er sie um billigen Preis haben konnte. Gewiss sind auch einzelne
Figuren und Köpfe um der Schönheit des Motives willen besonders
ausgeführt worden.

1) Eine gegeisselte Psyche. [Br.]
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[505/0527] Niobe. auch hicher; — Galeria delle Statue: eine niedersinkende Tochter, nebst dem Knie eines Bruders, auf das sie sich stützt (auch als Ce- phalus und Procris bezeichnet); — oberer Gang: ein fliehender Sohn. a b Museo capitolino: obere Galerie: ein fallender und ein knieender Sohn, auch zwei Töchter, wovon die eine als Psyche 1) umgebildet ist; ein colossaler Kopf der Mutter, nebst einem oder zwei andern Köpfen dieses Typus; — grosser Saal: die Statue eines alten Weibes, welche man für die Amme der Töchter ausgiebt. c d Museum von Neapel: Halle des Tiberius: vielleicht ist eine ste- hende, ganz bekleidete Statue eine Niobide. e Ausserhalb Italiens ist der sog. Ilioneus in der Münchner Glypto- thek nach allgemeiner Ansicht ein Niobide und zwar gemäss der Vor- trefflichkeit der Arbeit (die alle florentinischen etc. Figuren weit über- trifft) vielleicht ein echter Bestandtheil der Originalgruppe. Andere Statuen, welche theils Niobiden gewesen sind, theils durch die Restauratoren dazu gemacht wurden, könnten wir nicht ohne Weitschweifigkeit und Unsicherheit besprechen. Wie man sich nun diesen Vorrath als Ganzes zu denken habe, darüber gehen die Ansichten dergestalt auseinander, dass nicht einmal durchgängig die Giebelgruppe eines Tempels darin anerkannt wird, während Manche aus nicht zu verachtenden Gründen den Vorrath in zwei Giebelgruppen vertheilen. In diesem Fall bestände der Mittel- punkt in der einen aus der Mutter, in der andern aus dem Pädagogen; jene würde die Töchter, diese die Söhne enthalten haben. Das echte alte griechische Meisterwerk wird man sich nie mehr genau vergegenwärtigen können. Schon die alten römischen Wieder- holer sind zu willkürlich damit umgegangen und haben daneben auch einzelne Motive z. B. als Musen, als Psychen benützt. Eine Wieder- holung des Ganzen war so kostspielig, dass mehr als ein Besteller sich vielleicht mit einer Art von Excerpt begnügte; wer ein paar Statuen hatte, liess sich vielleicht die fehlenden hinzuarbeiten so gut er sie um billigen Preis haben konnte. Gewiss sind auch einzelne Figuren und Köpfe um der Schönheit des Motives willen besonders ausgeführt worden. 1) Eine gegeisselte Psyche. [Br.]

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/527>, abgerufen am 16.07.2024.