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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Gruppen.
die Contraste in den Momenten der Anstrengung und des Leidens,
die Aufthürmung des Ganzen auf Felsstufen verschiedener Höhe min-
destens geschickt und glücklich nennen müssen.

Allein das Ganze richtet sich durchaus nur an den äussern Sinn.

Dass die beiden Brüder sich aus Mutterliebe an der bösen Dirce
rächen, erfahren wir aus der Mythologie, allein nicht aus dem Kunst-
werk, welches an sich nichts als eine Brutalität vorstellt. Diese wird
uns allerdings vorgeführt mit einer Energie und einem Reichthum von
Mitteln, welche die Kunst sich erst an ganz andern Gegenständen
hatte erwerben müssen, ehe sie dieselben an einer solchen Bravour-
arbeit missbrauchen konnte.


Den Beschluss würde die weltberühmte Gruppe der Niobe
machen, wenn nicht gerade die Zusammenstellung der vorhandenen
Figuren zur Gruppe so überaus streitig wäre.

Es gab im alten Rom in oder an dem Tempel des Apollo So-
sianus eine aus Griechenland gebrachte Gruppe, welche den Untergang
der Niobiden (bekanntlich durch die Geschosse des Apoll und der
Artemis) darstellte und welche die Einen dem Skopas, die Andern
dem Praxiteles zuschrieben. Im Jahr 1583 fand man in der Villa
Palombara zwischen S. Maria maggiore und dem Lateran wirklich
eine Anzahl Statuen dieses Inhalts auf; es sind diejenigen, welche
aspäter nach Florenz kamen und jetzt nebst anderweitig gefundenen
im Niobe-Saal der Uffizien aufgestellt sind. Allein die Arbeit steht
nicht nur durchgängig beträchtlich unter derjenigen Höhe, welche
man dem Styl eines Skopas oder Praxiteles zuschreiben darf, sondern
auch die einzelnen Statuen sind unter sich höchst verschieden in Güte
und Styl, selbst in der Marmorgattung, und treten somit auf die Stufe
einer alten Copie von verschiedenen Händen zurück. Es muss be-
bmerkt werden, dass die beiden Ringer in der Tribuna und das Pferd
cin der innern Vorhalle derselben Galerie mit diesen Statuen gefunden
wurden. Inzwischen entdeckte man an verschiedenen Orten Köpfe
und Figuren, welche theils Wiederholungen der florentinischen, theils
mit Wahrscheinlichkeit demselben Cyclus einzuordnen sind:

d

Vatican: Museo Chiaramonti: die eilende Tochter, ohne Kopf und
Arme; ein schöner Kopf (509), Ariadne benannt, gehört vielleicht

Antike Sculptur. Gruppen.
die Contraste in den Momenten der Anstrengung und des Leidens,
die Aufthürmung des Ganzen auf Felsstufen verschiedener Höhe min-
destens geschickt und glücklich nennen müssen.

Allein das Ganze richtet sich durchaus nur an den äussern Sinn.

Dass die beiden Brüder sich aus Mutterliebe an der bösen Dirce
rächen, erfahren wir aus der Mythologie, allein nicht aus dem Kunst-
werk, welches an sich nichts als eine Brutalität vorstellt. Diese wird
uns allerdings vorgeführt mit einer Energie und einem Reichthum von
Mitteln, welche die Kunst sich erst an ganz andern Gegenständen
hatte erwerben müssen, ehe sie dieselben an einer solchen Bravour-
arbeit missbrauchen konnte.


Den Beschluss würde die weltberühmte Gruppe der Niobe
machen, wenn nicht gerade die Zusammenstellung der vorhandenen
Figuren zur Gruppe so überaus streitig wäre.

Es gab im alten Rom in oder an dem Tempel des Apollo So-
sianus eine aus Griechenland gebrachte Gruppe, welche den Untergang
der Niobiden (bekanntlich durch die Geschosse des Apoll und der
Artemis) darstellte und welche die Einen dem Skopas, die Andern
dem Praxiteles zuschrieben. Im Jahr 1583 fand man in der Villa
Palombara zwischen S. Maria maggiore und dem Lateran wirklich
eine Anzahl Statuen dieses Inhalts auf; es sind diejenigen, welche
aspäter nach Florenz kamen und jetzt nebst anderweitig gefundenen
im Niobe-Saal der Uffizien aufgestellt sind. Allein die Arbeit steht
nicht nur durchgängig beträchtlich unter derjenigen Höhe, welche
man dem Styl eines Skopas oder Praxiteles zuschreiben darf, sondern
auch die einzelnen Statuen sind unter sich höchst verschieden in Güte
und Styl, selbst in der Marmorgattung, und treten somit auf die Stufe
einer alten Copie von verschiedenen Händen zurück. Es muss be-
bmerkt werden, dass die beiden Ringer in der Tribuna und das Pferd
cin der innern Vorhalle derselben Galerie mit diesen Statuen gefunden
wurden. Inzwischen entdeckte man an verschiedenen Orten Köpfe
und Figuren, welche theils Wiederholungen der florentinischen, theils
mit Wahrscheinlichkeit demselben Cyclus einzuordnen sind:

d

Vatican: Museo Chiaramonti: die eilende Tochter, ohne Kopf und
Arme; ein schöner Kopf (509), Ariadne benannt, gehört vielleicht

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[504/0526] Antike Sculptur. Gruppen. die Contraste in den Momenten der Anstrengung und des Leidens, die Aufthürmung des Ganzen auf Felsstufen verschiedener Höhe min- destens geschickt und glücklich nennen müssen. Allein das Ganze richtet sich durchaus nur an den äussern Sinn. Dass die beiden Brüder sich aus Mutterliebe an der bösen Dirce rächen, erfahren wir aus der Mythologie, allein nicht aus dem Kunst- werk, welches an sich nichts als eine Brutalität vorstellt. Diese wird uns allerdings vorgeführt mit einer Energie und einem Reichthum von Mitteln, welche die Kunst sich erst an ganz andern Gegenständen hatte erwerben müssen, ehe sie dieselben an einer solchen Bravour- arbeit missbrauchen konnte. Den Beschluss würde die weltberühmte Gruppe der Niobe machen, wenn nicht gerade die Zusammenstellung der vorhandenen Figuren zur Gruppe so überaus streitig wäre. Es gab im alten Rom in oder an dem Tempel des Apollo So- sianus eine aus Griechenland gebrachte Gruppe, welche den Untergang der Niobiden (bekanntlich durch die Geschosse des Apoll und der Artemis) darstellte und welche die Einen dem Skopas, die Andern dem Praxiteles zuschrieben. Im Jahr 1583 fand man in der Villa Palombara zwischen S. Maria maggiore und dem Lateran wirklich eine Anzahl Statuen dieses Inhalts auf; es sind diejenigen, welche später nach Florenz kamen und jetzt nebst anderweitig gefundenen im Niobe-Saal der Uffizien aufgestellt sind. Allein die Arbeit steht nicht nur durchgängig beträchtlich unter derjenigen Höhe, welche man dem Styl eines Skopas oder Praxiteles zuschreiben darf, sondern auch die einzelnen Statuen sind unter sich höchst verschieden in Güte und Styl, selbst in der Marmorgattung, und treten somit auf die Stufe einer alten Copie von verschiedenen Händen zurück. Es muss be- merkt werden, dass die beiden Ringer in der Tribuna und das Pferd in der innern Vorhalle derselben Galerie mit diesen Statuen gefunden wurden. Inzwischen entdeckte man an verschiedenen Orten Köpfe und Figuren, welche theils Wiederholungen der florentinischen, theils mit Wahrscheinlichkeit demselben Cyclus einzuordnen sind: a b c Vatican: Museo Chiaramonti: die eilende Tochter, ohne Kopf und Arme; ein schöner Kopf (509), Ariadne benannt, gehört vielleicht

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/526>, abgerufen am 16.07.2024.