ten Gang des Museums von Neapel und auf den Braccio nuovo desa Vaticans.)
Wer im Süden der Gestalt und den Bewegungen des Volkes auch nur einen Blick gönnt, wird z. B. an jedem Brunnen überrascht werden durch die ungemeine Anmuth des Hebens und Tragens der Wassergefässe, der Waschkörbe u. dgl. Auch hat die Kunst von jeher derartige Motive von Schönheit und Kraft sich zu eigen gemacht; Raphael gab ihnen die Unvergänglichkeit in einer tragenden Figur seines Incendio del borgo (Vatican); Michel Angelo in der unerreich- baren Gruppe der Judith und ihrer Magd (Cap. Sistina). -- Die Alten aber hatten das Glück, diesen Motiven in einer feierlichen, erhabenen Sphäre zu begegnen: bei den Processionen nämlich, wenn die Jung- frauen der Stadt und die Tempeldienerinnen, auf dem Haupt die Körbe mit den Heiligthümern oder Opfergeräthen, einherwandelten. Daraus entstand der Typus der Korbträgerinnen (Kanephoren). Die eine Hand leicht an den Korb erhoben, die andere eingestützt oder im Gewand verhüllt, mit langsamem, bloss angedeutetem Schritte, frei vorwärtsblickend kommen sie uns entgegen. So die herrliche bacchi-b sche Kanephore der Athener Kriton und Nikolaos in der untern Halle der Villa Albani; neben ihr treten vier andere (ebendort) als flüch-c tige römische Arbeiten weit in den Hintergrund.
Noch viel ernster und feierlicher aber gestaltet sich dieser Typus in der Karyatide; die festlichen Jungfrauen tragen über ihrem zum Capitäl gewordenen Korb das Gesimse eines Tempels. Ausser den auf der athenischen Akropolis (am Erechtheion) erhaltenen Karyatiden besitzt Rom (Vatican, Braccio nuovo) ein stark restaurir-d tes Exemplar, welches der Sage nach einst im Pantheon soll ange- bracht gewesen sein; an Grösse und Ernst offenbar eher ein griechi- sches als ein römisches Werk. Von nicht viel geringerm Werthe iste die Karyatide im Hof des Palazzo Cepperello in Florenz. -- Auf merk- würdige Weise ist in der Jungfrau zugleich die architektonische Stütze, die Stellvertreterin der Säule charakterisirt; man hätte sie, soweit es sich um die Tragkraft handelte, viel leichter bilden können; allein
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Kanephoren und Karyatiden.
ten Gang des Museums von Neapel und auf den Braccio nuovo desa Vaticans.)
Wer im Süden der Gestalt und den Bewegungen des Volkes auch nur einen Blick gönnt, wird z. B. an jedem Brunnen überrascht werden durch die ungemeine Anmuth des Hebens und Tragens der Wassergefässe, der Waschkörbe u. dgl. Auch hat die Kunst von jeher derartige Motive von Schönheit und Kraft sich zu eigen gemacht; Raphael gab ihnen die Unvergänglichkeit in einer tragenden Figur seines Incendio del borgo (Vatican); Michel Angelo in der unerreich- baren Gruppe der Judith und ihrer Magd (Cap. Sistina). — Die Alten aber hatten das Glück, diesen Motiven in einer feierlichen, erhabenen Sphäre zu begegnen: bei den Processionen nämlich, wenn die Jung- frauen der Stadt und die Tempeldienerinnen, auf dem Haupt die Körbe mit den Heiligthümern oder Opfergeräthen, einherwandelten. Daraus entstand der Typus der Korbträgerinnen (Kanephoren). Die eine Hand leicht an den Korb erhoben, die andere eingestützt oder im Gewand verhüllt, mit langsamem, bloss angedeutetem Schritte, frei vorwärtsblickend kommen sie uns entgegen. So die herrliche bacchi-b sche Kanephore der Athener Kriton und Nikolaos in der untern Halle der Villa Albani; neben ihr treten vier andere (ebendort) als flüch-c tige römische Arbeiten weit in den Hintergrund.
Noch viel ernster und feierlicher aber gestaltet sich dieser Typus in der Karyatide; die festlichen Jungfrauen tragen über ihrem zum Capitäl gewordenen Korb das Gesimse eines Tempels. Ausser den auf der athenischen Akropolis (am Erechtheion) erhaltenen Karyatiden besitzt Rom (Vatican, Braccio nuovo) ein stark restaurir-d tes Exemplar, welches der Sage nach einst im Pantheon soll ange- bracht gewesen sein; an Grösse und Ernst offenbar eher ein griechi- sches als ein römisches Werk. Von nicht viel geringerm Werthe iste die Karyatide im Hof des Palazzo Cepperello in Florenz. — Auf merk- würdige Weise ist in der Jungfrau zugleich die architektonische Stütze, die Stellvertreterin der Säule charakterisirt; man hätte sie, soweit es sich um die Tragkraft handelte, viel leichter bilden können; allein
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Kanephoren und Karyatiden.
ten Gang des Museums von Neapel und auf den Braccio nuovo des
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auch nur einen Blick gönnt, wird z. B. an jedem Brunnen überrascht
werden durch die ungemeine Anmuth des Hebens und Tragens der
Wassergefässe, der Waschkörbe u. dgl. Auch hat die Kunst von jeher
derartige Motive von Schönheit und Kraft sich zu eigen gemacht;
Raphael gab ihnen die Unvergänglichkeit in einer tragenden Figur
seines Incendio del borgo (Vatican); Michel Angelo in der unerreich-
baren Gruppe der Judith und ihrer Magd (Cap. Sistina). — Die Alten
aber hatten das Glück, diesen Motiven in einer feierlichen, erhabenen
Sphäre zu begegnen: bei den Processionen nämlich, wenn die Jung-
frauen der Stadt und die Tempeldienerinnen, auf dem Haupt die
Körbe mit den Heiligthümern oder Opfergeräthen, einherwandelten.
Daraus entstand der Typus der Korbträgerinnen (Kanephoren). Die
eine Hand leicht an den Korb erhoben, die andere eingestützt oder im
Gewand verhüllt, mit langsamem, bloss angedeutetem Schritte, frei
vorwärtsblickend kommen sie uns entgegen. So die herrliche bacchi-
sche Kanephore der Athener Kriton und Nikolaos in der untern Halle
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Noch viel ernster und feierlicher aber gestaltet sich dieser
Typus in der Karyatide; die festlichen Jungfrauen tragen über
ihrem zum Capitäl gewordenen Korb das Gesimse eines Tempels.
Ausser den auf der athenischen Akropolis (am Erechtheion) erhaltenen
Karyatiden besitzt Rom (Vatican, Braccio nuovo) ein stark restaurir-
tes Exemplar, welches der Sage nach einst im Pantheon soll ange-
bracht gewesen sein; an Grösse und Ernst offenbar eher ein griechi-
sches als ein römisches Werk. Von nicht viel geringerm Werthe ist
die Karyatide im Hof des Palazzo Cepperello in Florenz. — Auf merk-
würdige Weise ist in der Jungfrau zugleich die architektonische Stütze,
die Stellvertreterin der Säule charakterisirt; man hätte sie, soweit es
sich um die Tragkraft handelte, viel leichter bilden können; allein
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/489>, abgerufen am 18.12.2024.
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