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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen.
Haupt; über dem feinen Unterkleid ein eigenthümliches Obergewand,
welches wahrscheinlich dem äussern Effect zu Liebe so gebildet ist:
mit sehr weiter oberer Öffnung, sodass es bei jeder Bewegung auf beide
Arme herabfallen müsste; von einem schweren Stoffe, welcher so tiefe,
schattige "Augen" bildet, wie sie sonst kaum an einem antiken Ge-
wande vorkommen; im Ganzen macht sich der Eindruck wie von
einem schön drapirten Modell geltend.

Den männlichen Togafiguren stehen am meisten parallel eine An-
zahl mächtiger Gestalten von betenden oder opfernden Frauen (Oran-
tinnen
). Weniger wegen der Ausführung als wegen der vollstän-
adigen Erhaltung nennen wir hier die eherne sog. Pietas des Museums
von Neapel (grosse Bronzen). Das Untergewand tritt sehr beschei-
den zurück; weit die Hauptsache ist der gewaltige Mantel, welcher
die ganze Figur sammt dem Haupte umwallt. Von den ausgestreck-
ten Armen klemmt der linke mit dem Ellbogen die beiden Hauptenden
zusammen, welche hierauf in zwei Zipfeln unterhalb des linken Knies
auslaufen; ein drittes Ende, dessen innerer Umschlag schön über die
Brust hinläuft, fliesst dann über den linken Arm hinunter. -- An Mar-
morexemplaren ist bisweilen die Arbeit besser, das Motiv aber der
Verstümmelungen wegen unverständlicher. -- Gut erhalten, bis auf die
bHände (deren jetzige Restauration allerdings die Orantinn nicht mehr
erkennen lässt) und die Gewandenden rechts vom Beschauer, erscheint
eine Marmorfigur dieser Art in derselben Sammlung (Halle des Ti-
berius), welche man unbedingt den herrlichsten römischen Gewand-
statuen beizählen darf. Die bronzene Pietas würde daneben ins tiefe
Dunkel zurücktreten.

Sehr häufig kommt dasjenige Motiv vor, welches unter den Mu-
sen vorzüglich der Polyhymnia eigen ist: das Obergewand ver-
hüllt bereits die linke Seite und den linken Arm, so dass von der
Hand nichts oder nur Fingerspitzen sichtbar sind; hinten herumge-
schlagen, soll es mit der erhobenen Rechten eben noch einmal über
die linke Schulter gelegt werden. (Schön an zwei Statuen junger Rö-
cmerinnen, vielleicht von der Familie des Balbus, im Museum von
dNeapel, erster Gang, und an einer Kaiserin, dritter Gang). -- Auch
ean der sog. Iphigenia, welche in der Kirche S. Corona zu Vicenza
neben dem 5. Altar links sich befindet. -- Die florentinische Priesterin

Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen.
Haupt; über dem feinen Unterkleid ein eigenthümliches Obergewand,
welches wahrscheinlich dem äussern Effect zu Liebe so gebildet ist:
mit sehr weiter oberer Öffnung, sodass es bei jeder Bewegung auf beide
Arme herabfallen müsste; von einem schweren Stoffe, welcher so tiefe,
schattige „Augen“ bildet, wie sie sonst kaum an einem antiken Ge-
wande vorkommen; im Ganzen macht sich der Eindruck wie von
einem schön drapirten Modell geltend.

Den männlichen Togafiguren stehen am meisten parallel eine An-
zahl mächtiger Gestalten von betenden oder opfernden Frauen (Oran-
tinnen
). Weniger wegen der Ausführung als wegen der vollstän-
adigen Erhaltung nennen wir hier die eherne sog. Pietas des Museums
von Neapel (grosse Bronzen). Das Untergewand tritt sehr beschei-
den zurück; weit die Hauptsache ist der gewaltige Mantel, welcher
die ganze Figur sammt dem Haupte umwallt. Von den ausgestreck-
ten Armen klemmt der linke mit dem Ellbogen die beiden Hauptenden
zusammen, welche hierauf in zwei Zipfeln unterhalb des linken Knies
auslaufen; ein drittes Ende, dessen innerer Umschlag schön über die
Brust hinläuft, fliesst dann über den linken Arm hinunter. — An Mar-
morexemplaren ist bisweilen die Arbeit besser, das Motiv aber der
Verstümmelungen wegen unverständlicher. — Gut erhalten, bis auf die
bHände (deren jetzige Restauration allerdings die Orantinn nicht mehr
erkennen lässt) und die Gewandenden rechts vom Beschauer, erscheint
eine Marmorfigur dieser Art in derselben Sammlung (Halle des Ti-
berius), welche man unbedingt den herrlichsten römischen Gewand-
statuen beizählen darf. Die bronzene Pietas würde daneben ins tiefe
Dunkel zurücktreten.

Sehr häufig kommt dasjenige Motiv vor, welches unter den Mu-
sen vorzüglich der Polyhymnia eigen ist: das Obergewand ver-
hüllt bereits die linke Seite und den linken Arm, so dass von der
Hand nichts oder nur Fingerspitzen sichtbar sind; hinten herumge-
schlagen, soll es mit der erhobenen Rechten eben noch einmal über
die linke Schulter gelegt werden. (Schön an zwei Statuen junger Rö-
cmerinnen, vielleicht von der Familie des Balbus, im Museum von
dNeapel, erster Gang, und an einer Kaiserin, dritter Gang). — Auch
ean der sog. Iphigenia, welche in der Kirche S. Corona zu Vicenza
neben dem 5. Altar links sich befindet. — Die florentinische Priesterin

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[464/0486] Antike Sculptur. Weibliche Gewandstatuen. Haupt; über dem feinen Unterkleid ein eigenthümliches Obergewand, welches wahrscheinlich dem äussern Effect zu Liebe so gebildet ist: mit sehr weiter oberer Öffnung, sodass es bei jeder Bewegung auf beide Arme herabfallen müsste; von einem schweren Stoffe, welcher so tiefe, schattige „Augen“ bildet, wie sie sonst kaum an einem antiken Ge- wande vorkommen; im Ganzen macht sich der Eindruck wie von einem schön drapirten Modell geltend. Den männlichen Togafiguren stehen am meisten parallel eine An- zahl mächtiger Gestalten von betenden oder opfernden Frauen (Oran- tinnen). Weniger wegen der Ausführung als wegen der vollstän- digen Erhaltung nennen wir hier die eherne sog. Pietas des Museums von Neapel (grosse Bronzen). Das Untergewand tritt sehr beschei- den zurück; weit die Hauptsache ist der gewaltige Mantel, welcher die ganze Figur sammt dem Haupte umwallt. Von den ausgestreck- ten Armen klemmt der linke mit dem Ellbogen die beiden Hauptenden zusammen, welche hierauf in zwei Zipfeln unterhalb des linken Knies auslaufen; ein drittes Ende, dessen innerer Umschlag schön über die Brust hinläuft, fliesst dann über den linken Arm hinunter. — An Mar- morexemplaren ist bisweilen die Arbeit besser, das Motiv aber der Verstümmelungen wegen unverständlicher. — Gut erhalten, bis auf die Hände (deren jetzige Restauration allerdings die Orantinn nicht mehr erkennen lässt) und die Gewandenden rechts vom Beschauer, erscheint eine Marmorfigur dieser Art in derselben Sammlung (Halle des Ti- berius), welche man unbedingt den herrlichsten römischen Gewand- statuen beizählen darf. Die bronzene Pietas würde daneben ins tiefe Dunkel zurücktreten. a b Sehr häufig kommt dasjenige Motiv vor, welches unter den Mu- sen vorzüglich der Polyhymnia eigen ist: das Obergewand ver- hüllt bereits die linke Seite und den linken Arm, so dass von der Hand nichts oder nur Fingerspitzen sichtbar sind; hinten herumge- schlagen, soll es mit der erhobenen Rechten eben noch einmal über die linke Schulter gelegt werden. (Schön an zwei Statuen junger Rö- merinnen, vielleicht von der Familie des Balbus, im Museum von Neapel, erster Gang, und an einer Kaiserin, dritter Gang). — Auch an der sog. Iphigenia, welche in der Kirche S. Corona zu Vicenza neben dem 5. Altar links sich befindet. — Die florentinische Priesterin c d e

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/486>, abgerufen am 16.07.2024.