Künstelei, welche z. B. im vorigen Jahrhundert bei mehreren Bild- hauern zum peinlichsten Streben nach Illusion führte, ist hier der Contrast des Feinern und des Derbern und das Übereinander der Fal- tung zwar mit der höchsten Kunst, aber ohne alle falsche Bravour behandelt; man sieht (wenigstens bei den bessern Exemplaren) immer, dass es dem Künstler vor Allem um die Hauptsache, um das schöne und sprechende Hervortreten der Gestalt im Gewande zu thun war und dass er jene Zierlichkeiten nur als Mittel zum Zwecke brauchte.
Eine wunderbare und räthselhafte (römische?) Figur, die sog. Pudicitia, mag hier zuerst genannt werden. Sie fasst mit der rech-a ten Hand in der Nähe des Halses den Schleier, dessen Ende über den nach rechts hinübergelegten linken Arm herabfällt. Will sie sich ver- schleiern oder hat sie sich eben entschleiert? -- Das Auge bleibt in einer angenehmen Ungewissheit. Das Zurücktreten der rechten Schul- ter 1), die Stellung der Füsse tragen mit zu diesem reizvollen Eindruck bei. (Das schönste Exemplar im Braccio nuovo des Vaticans, ein geringeres im Hof des Belvedere; andere überall.)b
Unter den übrigen zahlreichen Motiven, wovon immer eines rei- zender und sprechender ist als das andere, nennen wir beispielshalber dasjenige, wobei der Überschlag des Obergewandes erst über die Brust, dann über die Schulter geschwungen und von hinten hervor unter dem Arm geklemmt wird (Seite 461, c). Von vielen Beispielen eines der schönsten: die als Euterpe restaurirte Gestalt in der Galeria dellec statue des Vaticans.
Wieder eine besondere Aufgabe ist in der verhüllten Gefäss- trägerin (Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) gelöst,d die man für Pandora oder Psyche mit der Büchse, für Tuccia mit dem Sieb u. s. w., mit dem meisten Recht aber als Trägerin eines Heilig- thums in einem Festzuge erklärt hat. Für uns ist diese nur flüchtig gearbeitete Statue ein jedenfalls sehr schöner Versuch mehr, ein neues Motiv von Haltung und Geberde in feierlicher Gewandung auszudrücken. Allerdings zieht in demselben Raum die sog. Flora am schnellstene die Blicke auf sich, eine schöne Römerin, mit einem Kranz um das
1) Welches ja nicht etwa als Nachbildung eines zufällig schmalschultrigen weib- lichen Individuums aufzufassen ist.
Weibliche Gewandstatuen.
Künstelei, welche z. B. im vorigen Jahrhundert bei mehreren Bild- hauern zum peinlichsten Streben nach Illusion führte, ist hier der Contrast des Feinern und des Derbern und das Übereinander der Fal- tung zwar mit der höchsten Kunst, aber ohne alle falsche Bravour behandelt; man sieht (wenigstens bei den bessern Exemplaren) immer, dass es dem Künstler vor Allem um die Hauptsache, um das schöne und sprechende Hervortreten der Gestalt im Gewande zu thun war und dass er jene Zierlichkeiten nur als Mittel zum Zwecke brauchte.
Eine wunderbare und räthselhafte (römische?) Figur, die sog. Pudicitia, mag hier zuerst genannt werden. Sie fasst mit der rech-a ten Hand in der Nähe des Halses den Schleier, dessen Ende über den nach rechts hinübergelegten linken Arm herabfällt. Will sie sich ver- schleiern oder hat sie sich eben entschleiert? — Das Auge bleibt in einer angenehmen Ungewissheit. Das Zurücktreten der rechten Schul- ter 1), die Stellung der Füsse tragen mit zu diesem reizvollen Eindruck bei. (Das schönste Exemplar im Braccio nuovo des Vaticans, ein geringeres im Hof des Belvedere; andere überall.)b
Unter den übrigen zahlreichen Motiven, wovon immer eines rei- zender und sprechender ist als das andere, nennen wir beispielshalber dasjenige, wobei der Überschlag des Obergewandes erst über die Brust, dann über die Schulter geschwungen und von hinten hervor unter dem Arm geklemmt wird (Seite 461, c). Von vielen Beispielen eines der schönsten: die als Euterpe restaurirte Gestalt in der Galeria dellec statue des Vaticans.
Wieder eine besondere Aufgabe ist in der verhüllten Gefäss- trägerin (Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) gelöst,d die man für Pandora oder Psyche mit der Büchse, für Tuccia mit dem Sieb u. s. w., mit dem meisten Recht aber als Trägerin eines Heilig- thums in einem Festzuge erklärt hat. Für uns ist diese nur flüchtig gearbeitete Statue ein jedenfalls sehr schöner Versuch mehr, ein neues Motiv von Haltung und Geberde in feierlicher Gewandung auszudrücken. Allerdings zieht in demselben Raum die sog. Flora am schnellstene die Blicke auf sich, eine schöne Römerin, mit einem Kranz um das
1) Welches ja nicht etwa als Nachbildung eines zufällig schmalschultrigen weib- lichen Individuums aufzufassen ist.
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[463/0485]
Weibliche Gewandstatuen.
Künstelei, welche z. B. im vorigen Jahrhundert bei mehreren Bild-
hauern zum peinlichsten Streben nach Illusion führte, ist hier der
Contrast des Feinern und des Derbern und das Übereinander der Fal-
tung zwar mit der höchsten Kunst, aber ohne alle falsche Bravour
behandelt; man sieht (wenigstens bei den bessern Exemplaren) immer,
dass es dem Künstler vor Allem um die Hauptsache, um das schöne
und sprechende Hervortreten der Gestalt im Gewande zu thun war
und dass er jene Zierlichkeiten nur als Mittel zum Zwecke brauchte.
Eine wunderbare und räthselhafte (römische?) Figur, die sog.
Pudicitia, mag hier zuerst genannt werden. Sie fasst mit der rech-
ten Hand in der Nähe des Halses den Schleier, dessen Ende über den
nach rechts hinübergelegten linken Arm herabfällt. Will sie sich ver-
schleiern oder hat sie sich eben entschleiert? — Das Auge bleibt in
einer angenehmen Ungewissheit. Das Zurücktreten der rechten Schul-
ter 1), die Stellung der Füsse tragen mit zu diesem reizvollen Eindruck
bei. (Das schönste Exemplar im Braccio nuovo des Vaticans, ein
geringeres im Hof des Belvedere; andere überall.)
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zender und sprechender ist als das andere, nennen wir beispielshalber
dasjenige, wobei der Überschlag des Obergewandes erst über die Brust,
dann über die Schulter geschwungen und von hinten hervor unter dem
Arm geklemmt wird (Seite 461, c). Von vielen Beispielen eines der
schönsten: die als Euterpe restaurirte Gestalt in der Galeria delle
statue des Vaticans.
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Wieder eine besondere Aufgabe ist in der verhüllten Gefäss-
trägerin (Museo capitolino, Zimmer des sterbenden Fechters) gelöst,
die man für Pandora oder Psyche mit der Büchse, für Tuccia mit dem
Sieb u. s. w., mit dem meisten Recht aber als Trägerin eines Heilig-
thums in einem Festzuge erklärt hat. Für uns ist diese nur flüchtig
gearbeitete Statue ein jedenfalls sehr schöner Versuch mehr, ein neues
Motiv von Haltung und Geberde in feierlicher Gewandung auszudrücken.
Allerdings zieht in demselben Raum die sog. Flora am schnellsten
die Blicke auf sich, eine schöne Römerin, mit einem Kranz um das
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lichen Individuums aufzufassen ist.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/485>, abgerufen am 18.12.2024.
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