die Haare mit der Rechten aufzulösen im Begriffe war. Die Aus- führung ist vorzüglich schön, doch schwerlich mehr griechisch, die erhaltenen Theile des Köpfchens von einem Reiz, der an die Psyche von Capua erinnert. (Nach neuerer Annahme ein praxitelisches Motiv, die sog. coische Venus.)
Die spätere Zeit hat noch einige Motive mehr hinzugefügt, die weder im Gedanken noch in der Ausführung zu den glücklichen ge- hören. Vielleicht strebte z. B. derjenige Bildhauer originell zu sein, welcher die Venus der Villa Borghese (Zimmer der Juno) bildete,a die sich mit dem Schwamme wascht, während ein Amorin zusieht; oder der Erfinder derjenigen kauernden Venus, welche den Delphinb am Schweif hält, im Vorsaal der Villa Ludovisi. -- Häufig ist das Gewand über dem Schooss zusammengeknüpft, lässt vorn die Beine frei und dient hinten als Stütze (S. 451, a); -- oder die Göttin ist im Begriff, es mit beiden Händen um sich zu nehmen. (Beispiele von die-c sen beiden Motiven im Museo Chiaramonti des Vaticans.)
Das Mütterliche tritt in den bisher genannten Bildungen der Aphro- dite nirgends hervor. Mit ihrem Sohne Eros wurde die Göttin kaum je zu einer Gruppe verbunden (wenigstens haben wir keine solche). Die geflügelten Kinder, welche ihr beigegeben werden, sind Eroten, Amorine, nicht Darstellungen des eigentlichen Eros.
Ein ganz besonderer Typus aber blieb der mütterlichen Seite der Göttin vorbehalten, vielleicht aus alter Zeit stammend, jedenfalls aber erst unter den Kaisern häufig wiederholt. In vielen Sammlungen (z. B. ganz gut im Junozimmer der Villa Borghese, auf der Trepped des Museums von Neapel, als Statuette auch im zweiten Gang des- selben, in der Inschriftenhalle der Uffizien zu Florenz u. a. a. O.)e findet man das Bild einer ganz bekleideten Frau von reifer Schönheit, deren Formen durch das dünne, eng anliegende Untergewand deut- lich erscheinen; das Obergewand zieht sie eben mit dem einen Arm vom Rücken herüber, als wollte sie sich verhüllen 1). Es ist Venus die Erzeugerin (genitrix), die Schützerin des gesetzlichen Fort- lebens der Familie, und zugleich durch Anchises die Ahnfrau des
1) "Aphrodite den Mantel lüftend." [Br.]
Aphrodite. Venus genitrix.
die Haare mit der Rechten aufzulösen im Begriffe war. Die Aus- führung ist vorzüglich schön, doch schwerlich mehr griechisch, die erhaltenen Theile des Köpfchens von einem Reiz, der an die Psyche von Capua erinnert. (Nach neuerer Annahme ein praxitelisches Motiv, die sog. coische Venus.)
Die spätere Zeit hat noch einige Motive mehr hinzugefügt, die weder im Gedanken noch in der Ausführung zu den glücklichen ge- hören. Vielleicht strebte z. B. derjenige Bildhauer originell zu sein, welcher die Venus der Villa Borghese (Zimmer der Juno) bildete,a die sich mit dem Schwamme wascht, während ein Amorin zusieht; oder der Erfinder derjenigen kauernden Venus, welche den Delphinb am Schweif hält, im Vorsaal der Villa Ludovisi. — Häufig ist das Gewand über dem Schooss zusammengeknüpft, lässt vorn die Beine frei und dient hinten als Stütze (S. 451, a); — oder die Göttin ist im Begriff, es mit beiden Händen um sich zu nehmen. (Beispiele von die-c sen beiden Motiven im Museo Chiaramonti des Vaticans.)
Das Mütterliche tritt in den bisher genannten Bildungen der Aphro- dite nirgends hervor. Mit ihrem Sohne Eros wurde die Göttin kaum je zu einer Gruppe verbunden (wenigstens haben wir keine solche). Die geflügelten Kinder, welche ihr beigegeben werden, sind Eroten, Amorine, nicht Darstellungen des eigentlichen Eros.
Ein ganz besonderer Typus aber blieb der mütterlichen Seite der Göttin vorbehalten, vielleicht aus alter Zeit stammend, jedenfalls aber erst unter den Kaisern häufig wiederholt. In vielen Sammlungen (z. B. ganz gut im Junozimmer der Villa Borghese, auf der Trepped des Museums von Neapel, als Statuette auch im zweiten Gang des- selben, in der Inschriftenhalle der Uffizien zu Florenz u. a. a. O.)e findet man das Bild einer ganz bekleideten Frau von reifer Schönheit, deren Formen durch das dünne, eng anliegende Untergewand deut- lich erscheinen; das Obergewand zieht sie eben mit dem einen Arm vom Rücken herüber, als wollte sie sich verhüllen 1). Es ist Venus die Erzeugerin (genitrix), die Schützerin des gesetzlichen Fort- lebens der Familie, und zugleich durch Anchises die Ahnfrau des
1) „Aphrodite den Mantel lüftend.“ [Br.]
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Aphrodite. Venus genitrix.
die Haare mit der Rechten aufzulösen im Begriffe war. Die Aus-
führung ist vorzüglich schön, doch schwerlich mehr griechisch, die
erhaltenen Theile des Köpfchens von einem Reiz, der an die Psyche
von Capua erinnert. (Nach neuerer Annahme ein praxitelisches Motiv,
die sog. coische Venus.)
Die spätere Zeit hat noch einige Motive mehr hinzugefügt, die
weder im Gedanken noch in der Ausführung zu den glücklichen ge-
hören. Vielleicht strebte z. B. derjenige Bildhauer originell zu sein,
welcher die Venus der Villa Borghese (Zimmer der Juno) bildete,
die sich mit dem Schwamme wascht, während ein Amorin zusieht;
oder der Erfinder derjenigen kauernden Venus, welche den Delphin
am Schweif hält, im Vorsaal der Villa Ludovisi. — Häufig ist das
Gewand über dem Schooss zusammengeknüpft, lässt vorn die Beine
frei und dient hinten als Stütze (S. 451, a); — oder die Göttin ist im
Begriff, es mit beiden Händen um sich zu nehmen. (Beispiele von die-
sen beiden Motiven im Museo Chiaramonti des Vaticans.)
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dite nirgends hervor. Mit ihrem Sohne Eros wurde die Göttin kaum
je zu einer Gruppe verbunden (wenigstens haben wir keine solche).
Die geflügelten Kinder, welche ihr beigegeben werden, sind Eroten,
Amorine, nicht Darstellungen des eigentlichen Eros.
Ein ganz besonderer Typus aber blieb der mütterlichen Seite der
Göttin vorbehalten, vielleicht aus alter Zeit stammend, jedenfalls aber
erst unter den Kaisern häufig wiederholt. In vielen Sammlungen
(z. B. ganz gut im Junozimmer der Villa Borghese, auf der Treppe
des Museums von Neapel, als Statuette auch im zweiten Gang des-
selben, in der Inschriftenhalle der Uffizien zu Florenz u. a. a. O.)
findet man das Bild einer ganz bekleideten Frau von reifer Schönheit,
deren Formen durch das dünne, eng anliegende Untergewand deut-
lich erscheinen; das Obergewand zieht sie eben mit dem einen Arm
vom Rücken herüber, als wollte sie sich verhüllen 1). Es ist Venus
die Erzeugerin (genitrix), die Schützerin des gesetzlichen Fort-
lebens der Familie, und zugleich durch Anchises die Ahnfrau des
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/475>, abgerufen am 18.12.2024.
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