Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Venedig. Dogenpalast. Adelspaläste.
hunderte später an der sog. Basilica zu Vicenza neu belebt zu repro-
duciren hatte.


Venedig hat vor Allem seinen weltberühmten Dogenpalast,a
begonnen um 1350 von Filippo Calendario. Es ist schwer mit
einem Gebäude zu rechten, welchem abgesehen von Grösse und Pracht
auch noch durch historische und poetische Vorurtheile aller Art ein
so grosser Phantasie-Eindruck gesichert ist. Sonst müssten wir be-
kennen, dass die ungeheure, rautenartig incrustirte Obermauer die bei-
den Hallenstockwerke, auf welchen sie unmittelbar ruht, in den Boden
drückt. Man hat desshalb auch immer gemeint, das untere derselben
habe wirklich durch Auffüllung des Bodens etwas von seiner Höhe
eingebüsst, bis Nachgrabungen diess als irrig erwiesen. Jedenfalls ist
schon die Proportion desselben zum obern unentschieden, geschweige
denn zum Ganzen; entweder müsste es derber und niedriger, oder
höher und schlanker sein als es ist. Auch hier offenbart sich der
Mangel an demjenigen Gefühl für Verhältnisse, welches sich nur da
entwickelt, wo die Architektur festen Boden und grossen freien Raum
zur Verfügung hat. -- An sich aber wirkt das obere Hallenstockwerk
ausserordentlich schön und hat als durchsichtige Galerie in der Kunst
des Mittelalters nicht mehr seines Gleichen. -- Die Fenster der Ober-
mauer und die Zinnen des Kranzgesimses sind blosse Decoration, dagegen
die Porta della Carta (s. unten) ein sehr werthvoller und tüchtiger Bau
des sich schon zur Renaissance neigenden spätgothischen Styles (1439).

Dieses wunderbare Gebäude ist nun theils Nachbild, theils Vor-
bild einer bedeutenden Palastbaukunst, die im XIV. und während der
ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Venedig blühte. Sie unter-
scheidet sich von der sonstigen italienischen (florentinischen, sienesi-
schen) dadurch, dass sie sich nicht aus dem Bau fester Familienbur-
gen entwickelt, welche dem politischen Parteiwesen als Schauplatz
und Zuflucht zu dienen haben. Vielmehr ist es hier der ruhige Reich-
thum, der sein heiteres Antlitz am liebsten gegen den grossen Canal
wendet. Das Erdgeschoss war (wenigstens früher) den Waarenlagern
und Geschäften gewidmet; einfache Bogenthore öffnen sich für die
Landung der Barken und Gondeln; ausnahmsweise auch etwa eine

Venedig. Dogenpalast. Adelspaläste.
hunderte später an der sog. Basilica zu Vicenza neu belebt zu repro-
duciren hatte.


Venedig hat vor Allem seinen weltberühmten Dogenpalast,a
begonnen um 1350 von Filippo Calendario. Es ist schwer mit
einem Gebäude zu rechten, welchem abgesehen von Grösse und Pracht
auch noch durch historische und poetische Vorurtheile aller Art ein
so grosser Phantasie-Eindruck gesichert ist. Sonst müssten wir be-
kennen, dass die ungeheure, rautenartig incrustirte Obermauer die bei-
den Hallenstockwerke, auf welchen sie unmittelbar ruht, in den Boden
drückt. Man hat desshalb auch immer gemeint, das untere derselben
habe wirklich durch Auffüllung des Bodens etwas von seiner Höhe
eingebüsst, bis Nachgrabungen diess als irrig erwiesen. Jedenfalls ist
schon die Proportion desselben zum obern unentschieden, geschweige
denn zum Ganzen; entweder müsste es derber und niedriger, oder
höher und schlanker sein als es ist. Auch hier offenbart sich der
Mangel an demjenigen Gefühl für Verhältnisse, welches sich nur da
entwickelt, wo die Architektur festen Boden und grossen freien Raum
zur Verfügung hat. — An sich aber wirkt das obere Hallenstockwerk
ausserordentlich schön und hat als durchsichtige Galerie in der Kunst
des Mittelalters nicht mehr seines Gleichen. — Die Fenster der Ober-
mauer und die Zinnen des Kranzgesimses sind blosse Decoration, dagegen
die Porta della Carta (s. unten) ein sehr werthvoller und tüchtiger Bau
des sich schon zur Renaissance neigenden spätgothischen Styles (1439).

Dieses wunderbare Gebäude ist nun theils Nachbild, theils Vor-
bild einer bedeutenden Palastbaukunst, die im XIV. und während der
ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Venedig blühte. Sie unter-
scheidet sich von der sonstigen italienischen (florentinischen, sienesi-
schen) dadurch, dass sie sich nicht aus dem Bau fester Familienbur-
gen entwickelt, welche dem politischen Parteiwesen als Schauplatz
und Zuflucht zu dienen haben. Vielmehr ist es hier der ruhige Reich-
thum, der sein heiteres Antlitz am liebsten gegen den grossen Canal
wendet. Das Erdgeschoss war (wenigstens früher) den Waarenlagern
und Geschäften gewidmet; einfache Bogenthore öffnen sich für die
Landung der Barken und Gondeln; ausnahmsweise auch etwa eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0177" n="155"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Venedig. Dogenpalast. Adelspaläste.</hi></fw><lb/>
hunderte später an der sog. Basilica zu Vicenza neu belebt zu repro-<lb/>
duciren hatte.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Venedig hat vor Allem seinen weltberühmten <hi rendition="#g">Dogenpalast</hi>,<note place="right">a</note><lb/>
begonnen um 1350 von <hi rendition="#g">Filippo Calendario</hi>. Es ist schwer mit<lb/>
einem Gebäude zu rechten, welchem abgesehen von Grösse und Pracht<lb/>
auch noch durch historische und poetische Vorurtheile aller Art ein<lb/>
so grosser Phantasie-Eindruck gesichert ist. Sonst müssten wir be-<lb/>
kennen, dass die ungeheure, rautenartig incrustirte Obermauer die bei-<lb/>
den Hallenstockwerke, auf welchen sie unmittelbar ruht, in den Boden<lb/>
drückt. Man hat desshalb auch immer gemeint, das untere derselben<lb/>
habe wirklich durch Auffüllung des Bodens etwas von seiner Höhe<lb/>
eingebüsst, bis Nachgrabungen diess als irrig erwiesen. Jedenfalls ist<lb/>
schon die Proportion desselben zum obern unentschieden, geschweige<lb/>
denn zum Ganzen; entweder müsste es derber und niedriger, oder<lb/>
höher und schlanker sein als es ist. Auch hier offenbart sich der<lb/>
Mangel an demjenigen Gefühl für Verhältnisse, welches sich nur da<lb/>
entwickelt, wo die Architektur festen Boden und grossen freien Raum<lb/>
zur Verfügung hat. &#x2014; An sich aber wirkt das obere Hallenstockwerk<lb/>
ausserordentlich schön und hat als durchsichtige Galerie in der Kunst<lb/>
des Mittelalters nicht mehr seines Gleichen. &#x2014; Die Fenster der Ober-<lb/>
mauer und die Zinnen des Kranzgesimses sind blosse Decoration, dagegen<lb/>
die Porta della Carta (s. unten) ein sehr werthvoller und tüchtiger Bau<lb/>
des sich schon zur Renaissance neigenden spätgothischen Styles (1439).</p><lb/>
        <p>Dieses wunderbare Gebäude ist nun theils Nachbild, theils Vor-<lb/>
bild einer bedeutenden Palastbaukunst, die im XIV. und während der<lb/>
ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Venedig blühte. Sie unter-<lb/>
scheidet sich von der sonstigen italienischen (florentinischen, sienesi-<lb/>
schen) dadurch, dass sie sich nicht aus dem Bau fester Familienbur-<lb/>
gen entwickelt, welche dem politischen Parteiwesen als Schauplatz<lb/>
und Zuflucht zu dienen haben. Vielmehr ist es hier der ruhige Reich-<lb/>
thum, der sein heiteres Antlitz am liebsten gegen den grossen Canal<lb/>
wendet. Das Erdgeschoss war (wenigstens früher) den Waarenlagern<lb/>
und Geschäften gewidmet; einfache Bogenthore öffnen sich für die<lb/>
Landung der Barken und Gondeln; ausnahmsweise auch etwa eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0177] Venedig. Dogenpalast. Adelspaläste. hunderte später an der sog. Basilica zu Vicenza neu belebt zu repro- duciren hatte. Venedig hat vor Allem seinen weltberühmten Dogenpalast, begonnen um 1350 von Filippo Calendario. Es ist schwer mit einem Gebäude zu rechten, welchem abgesehen von Grösse und Pracht auch noch durch historische und poetische Vorurtheile aller Art ein so grosser Phantasie-Eindruck gesichert ist. Sonst müssten wir be- kennen, dass die ungeheure, rautenartig incrustirte Obermauer die bei- den Hallenstockwerke, auf welchen sie unmittelbar ruht, in den Boden drückt. Man hat desshalb auch immer gemeint, das untere derselben habe wirklich durch Auffüllung des Bodens etwas von seiner Höhe eingebüsst, bis Nachgrabungen diess als irrig erwiesen. Jedenfalls ist schon die Proportion desselben zum obern unentschieden, geschweige denn zum Ganzen; entweder müsste es derber und niedriger, oder höher und schlanker sein als es ist. Auch hier offenbart sich der Mangel an demjenigen Gefühl für Verhältnisse, welches sich nur da entwickelt, wo die Architektur festen Boden und grossen freien Raum zur Verfügung hat. — An sich aber wirkt das obere Hallenstockwerk ausserordentlich schön und hat als durchsichtige Galerie in der Kunst des Mittelalters nicht mehr seines Gleichen. — Die Fenster der Ober- mauer und die Zinnen des Kranzgesimses sind blosse Decoration, dagegen die Porta della Carta (s. unten) ein sehr werthvoller und tüchtiger Bau des sich schon zur Renaissance neigenden spätgothischen Styles (1439). a Dieses wunderbare Gebäude ist nun theils Nachbild, theils Vor- bild einer bedeutenden Palastbaukunst, die im XIV. und während der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Venedig blühte. Sie unter- scheidet sich von der sonstigen italienischen (florentinischen, sienesi- schen) dadurch, dass sie sich nicht aus dem Bau fester Familienbur- gen entwickelt, welche dem politischen Parteiwesen als Schauplatz und Zuflucht zu dienen haben. Vielmehr ist es hier der ruhige Reich- thum, der sein heiteres Antlitz am liebsten gegen den grossen Canal wendet. Das Erdgeschoss war (wenigstens früher) den Waarenlagern und Geschäften gewidmet; einfache Bogenthore öffnen sich für die Landung der Barken und Gondeln; ausnahmsweise auch etwa eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/177
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/177>, abgerufen am 05.12.2024.