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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Gothische Architektur. Kirchen von Venedig.
ist kaum zu rechtfertigen, wenn auch dieselbe nicht urkundlich ge-
sichert sein sollte. So viel wird Jedermann zugeben, dass diese gran-
diose Kirche kein einheimischer venezianischer Gedanke ist, dass sie
auf das Stärkste contrastirt mit aller sonstigen venezianischen Raum-
behandlung. -- Das Innere ruht auf hohen Rundpfeilern; die Anord-
nung ist hier schon ganz italienisch, so dass das Mittelschiff aus mög-
lichst grossen Quadraten besteht, die Seitenschiffe aus oblongen Ab-
theilungen. Sonderbarer Weise geschieht der Abschluss des prächti-
gen Chores mit seinen Doppelfenstern und derjenige der sechs Capel-
len an der Rückseite des Querschiffes nicht durch ein Fenster, sondern
durch einen Pfeiler 1). Am Äussern ist der Backstein noch ohne das
Raffinement der spätern Gothik behandelt; Stein ist nur an den weni-
gen Baldachinen über den Giebeln und an den (kenntlich frühgothi-
schen) Portalen gebraucht. Der Abschluss der Fassadengiebel in sonderbar
geschwungenen Mauerstücken ist eine venezianische Zuthat; die echten
alten geraden Linien Niccolo's laufen noch wohlerhalten darunter hin.
Die Nebenseiten erinnern ganz an S. Maria novella.

Um dieselbe Zeit soll "von Dominicanern, welche Niccolo's Schü-
aler waren", S. Giovanni e Paolo in Venedig erbaut worden
sein. Diese Kirche ist die höhere Stufe der ebengenannten; sie ver-
meidet die Übelstände derselben. Die Verhältnisse sind beträchtlich
schlanker und schöner; die hintern Abschlüsse geschehen durch Inter-
valle (Fenster), nicht durch Pfeiler. Über der Kreuzung wurde eine
Kuppel angebracht. Nur die Fassade weicht von der edeln Einfach-
heit der Frari ab; sie sollte mit Marmor incrustirt werden und blieb
unvollendet.

Endlich soll Niccolo Pisano auch die berühmte Kirche des heil.
bAntonius in Padua (il Santo) erbaut haben, welche 1256 be-
gonnen wurde. Dass der Santo den Frari in der Anlage auf keine
Weise gleicht, wäre kein Beweis gegen Niccolo's Urheberschaft; die
Aufgabe war hier eine andere, nämlich die, ein Gegenstück zur Mar-
cuskirche zu schaffen; eine Grabkirche zu Ehren des grossen neuen
Heiligen von Oberitalien. Griff man vielleicht in einem nur halb be-

1) Man erinnere sich der Galerien lucchesischer Fassaden, wo auch ein Säul-
chen statt eines Intervalles auf die Mitte trifft. Vgl. S. 107.

Gothische Architektur. Kirchen von Venedig.
ist kaum zu rechtfertigen, wenn auch dieselbe nicht urkundlich ge-
sichert sein sollte. So viel wird Jedermann zugeben, dass diese gran-
diose Kirche kein einheimischer venezianischer Gedanke ist, dass sie
auf das Stärkste contrastirt mit aller sonstigen venezianischen Raum-
behandlung. — Das Innere ruht auf hohen Rundpfeilern; die Anord-
nung ist hier schon ganz italienisch, so dass das Mittelschiff aus mög-
lichst grossen Quadraten besteht, die Seitenschiffe aus oblongen Ab-
theilungen. Sonderbarer Weise geschieht der Abschluss des prächti-
gen Chores mit seinen Doppelfenstern und derjenige der sechs Capel-
len an der Rückseite des Querschiffes nicht durch ein Fenster, sondern
durch einen Pfeiler 1). Am Äussern ist der Backstein noch ohne das
Raffinement der spätern Gothik behandelt; Stein ist nur an den weni-
gen Baldachinen über den Giebeln und an den (kenntlich frühgothi-
schen) Portalen gebraucht. Der Abschluss der Fassadengiebel in sonderbar
geschwungenen Mauerstücken ist eine venezianische Zuthat; die echten
alten geraden Linien Niccolò’s laufen noch wohlerhalten darunter hin.
Die Nebenseiten erinnern ganz an S. Maria novella.

Um dieselbe Zeit soll „von Dominicanern, welche Niccolò’s Schü-
aler waren“, S. Giovanni e Paolo in Venedig erbaut worden
sein. Diese Kirche ist die höhere Stufe der ebengenannten; sie ver-
meidet die Übelstände derselben. Die Verhältnisse sind beträchtlich
schlanker und schöner; die hintern Abschlüsse geschehen durch Inter-
valle (Fenster), nicht durch Pfeiler. Über der Kreuzung wurde eine
Kuppel angebracht. Nur die Fassade weicht von der edeln Einfach-
heit der Frari ab; sie sollte mit Marmor incrustirt werden und blieb
unvollendet.

Endlich soll Niccolò Pisano auch die berühmte Kirche des heil.
bAntonius in Padua (il Santo) erbaut haben, welche 1256 be-
gonnen wurde. Dass der Santo den Frari in der Anlage auf keine
Weise gleicht, wäre kein Beweis gegen Niccolò’s Urheberschaft; die
Aufgabe war hier eine andere, nämlich die, ein Gegenstück zur Mar-
cuskirche zu schaffen; eine Grabkirche zu Ehren des grossen neuen
Heiligen von Oberitalien. Griff man vielleicht in einem nur halb be-

1) Man erinnere sich der Galerien lucchesischer Fassaden, wo auch ein Säul-
chen statt eines Intervalles auf die Mitte trifft. Vgl. S. 107.
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[138/0160] Gothische Architektur. Kirchen von Venedig. ist kaum zu rechtfertigen, wenn auch dieselbe nicht urkundlich ge- sichert sein sollte. So viel wird Jedermann zugeben, dass diese gran- diose Kirche kein einheimischer venezianischer Gedanke ist, dass sie auf das Stärkste contrastirt mit aller sonstigen venezianischen Raum- behandlung. — Das Innere ruht auf hohen Rundpfeilern; die Anord- nung ist hier schon ganz italienisch, so dass das Mittelschiff aus mög- lichst grossen Quadraten besteht, die Seitenschiffe aus oblongen Ab- theilungen. Sonderbarer Weise geschieht der Abschluss des prächti- gen Chores mit seinen Doppelfenstern und derjenige der sechs Capel- len an der Rückseite des Querschiffes nicht durch ein Fenster, sondern durch einen Pfeiler 1). Am Äussern ist der Backstein noch ohne das Raffinement der spätern Gothik behandelt; Stein ist nur an den weni- gen Baldachinen über den Giebeln und an den (kenntlich frühgothi- schen) Portalen gebraucht. Der Abschluss der Fassadengiebel in sonderbar geschwungenen Mauerstücken ist eine venezianische Zuthat; die echten alten geraden Linien Niccolò’s laufen noch wohlerhalten darunter hin. Die Nebenseiten erinnern ganz an S. Maria novella. Um dieselbe Zeit soll „von Dominicanern, welche Niccolò’s Schü- ler waren“, S. Giovanni e Paolo in Venedig erbaut worden sein. Diese Kirche ist die höhere Stufe der ebengenannten; sie ver- meidet die Übelstände derselben. Die Verhältnisse sind beträchtlich schlanker und schöner; die hintern Abschlüsse geschehen durch Inter- valle (Fenster), nicht durch Pfeiler. Über der Kreuzung wurde eine Kuppel angebracht. Nur die Fassade weicht von der edeln Einfach- heit der Frari ab; sie sollte mit Marmor incrustirt werden und blieb unvollendet. a Endlich soll Niccolò Pisano auch die berühmte Kirche des heil. Antonius in Padua (il Santo) erbaut haben, welche 1256 be- gonnen wurde. Dass der Santo den Frari in der Anlage auf keine Weise gleicht, wäre kein Beweis gegen Niccolò’s Urheberschaft; die Aufgabe war hier eine andere, nämlich die, ein Gegenstück zur Mar- cuskirche zu schaffen; eine Grabkirche zu Ehren des grossen neuen Heiligen von Oberitalien. Griff man vielleicht in einem nur halb be- b 1) Man erinnere sich der Galerien lucchesischer Fassaden, wo auch ein Säul- chen statt eines Intervalles auf die Mitte trifft. Vgl. S. 107.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/160>, abgerufen am 25.11.2024.