Gebäude Italiens, empfängt den Beschauer gleich mit einer Reihe von Räthselfragen, welche der Verfasser so wenig als die meisten Andern zu lösen im Stande ist. Wurde die sechseckige Kuppel, welche oben zu einem total unregelmässigen, schief gezogenen Zwölfeck wird und ohnehin den Bau auf jede Weise unterbricht, zuerst (XII. Jahrhun- dert) gebaut? Wesshalb die schiefen und krummen Linien im Haupt- schiff und vollends die schiefe Richtung und die unregelmässigen Pfei- lerintervalle im ganzen Chor? hat man vielleicht auf vereinzelte Stücke Felsgrund mehr als billige Rücksicht genommen? Was war von der Un- terkirche San Giovanni vorhanden, als man den obern Chor begann? (Vgl. S. 103 ff.) -- Wie dem auch sei, es spricht sich in dem ganzen Gebäude der italienische Bausinn schön und gefällig aus. So besonders an den Aussenwänden der Seitenschiffe; das Massenverhältniss der Fen- ster zu den Mauern (ein Begriff, welchen die consequente nordische Gothik gar nicht anerkennt) ist hier ein sehr wohlthuendes; die Strebe- pfeiler, nur mässig vortretend, laufen oben nicht im Thürmchen, son- dern in Statuen aus; der schwarze Marmor, nur in seltenen Schichten den weissen unterbrechend, übertönt nicht die zarten Gliederungen, und das Kranzgesimse kann energisch wirken (XIV. Jahrhundert). Die Fassade (1284) 1), mit ihrem majestätischen Reichthum, hat ganz die überströmende Energie des Giovanni Pisano (der wenigstens das Modell schuf) und konnte desshalb (einige Jahre später) von dem Baumeister des Domes von Orvieto an ruhiger Eleganz der Linien überboten werden. Die gothischen Einzelformen sind übrigens in ver- hältnissmässig reiner Tradition gehandhabt.
Im Innern hebt allerdings die Abwechselung des weissen und des
1) Dass die Fassade von Siena eine primitivere Anlage zeigt als diejenige von Orvieto, lehrt der Augenschein. Dass sie von Giovanni Pisano entworfen sei, läugnet Rumohr ohne einen Gegenbeweis zu leisten. Er meint: Vasari habe den Giovanni von Siena, welcher 1340 die Hinterfassade geschaffen, mit Giovanni Pisano verwechselt und darauf hin diesem die Hauptfassade zugeschrieben. Ich kann mich nur auf Romagnoli berufen, welcher die sie- nesischen Urkunden auch kannte und sich (Cenni, p. 14) dahin ausspricht: Giovanni Pisano habe 1284 die jetzige Hauptfassade begonnen und sei drei Jahre später zum Bürger der Stadt ernannt worden, beides laut dem Costi- tato III. Senese.
Dom von Siena.
Gebäude Italiens, empfängt den Beschauer gleich mit einer Reihe von Räthselfragen, welche der Verfasser so wenig als die meisten Andern zu lösen im Stande ist. Wurde die sechseckige Kuppel, welche oben zu einem total unregelmässigen, schief gezogenen Zwölfeck wird und ohnehin den Bau auf jede Weise unterbricht, zuerst (XII. Jahrhun- dert) gebaut? Wesshalb die schiefen und krummen Linien im Haupt- schiff und vollends die schiefe Richtung und die unregelmässigen Pfei- lerintervalle im ganzen Chor? hat man vielleicht auf vereinzelte Stücke Felsgrund mehr als billige Rücksicht genommen? Was war von der Un- terkirche San Giovanni vorhanden, als man den obern Chor begann? (Vgl. S. 103 ff.) — Wie dem auch sei, es spricht sich in dem ganzen Gebäude der italienische Bausinn schön und gefällig aus. So besonders an den Aussenwänden der Seitenschiffe; das Massenverhältniss der Fen- ster zu den Mauern (ein Begriff, welchen die consequente nordische Gothik gar nicht anerkennt) ist hier ein sehr wohlthuendes; die Strebe- pfeiler, nur mässig vortretend, laufen oben nicht im Thürmchen, son- dern in Statuen aus; der schwarze Marmor, nur in seltenen Schichten den weissen unterbrechend, übertönt nicht die zarten Gliederungen, und das Kranzgesimse kann energisch wirken (XIV. Jahrhundert). Die Fassade (1284) 1), mit ihrem majestätischen Reichthum, hat ganz die überströmende Energie des Giovanni Pisano (der wenigstens das Modell schuf) und konnte desshalb (einige Jahre später) von dem Baumeister des Domes von Orvieto an ruhiger Eleganz der Linien überboten werden. Die gothischen Einzelformen sind übrigens in ver- hältnissmässig reiner Tradition gehandhabt.
Im Innern hebt allerdings die Abwechselung des weissen und des
1) Dass die Fassade von Siena eine primitivere Anlage zeigt als diejenige von Orvieto, lehrt der Augenschein. Dass sie von Giovanni Pisano entworfen sei, läugnet Rumohr ohne einen Gegenbeweis zu leisten. Er meint: Vasari habe den Giovanni von Siena, welcher 1340 die Hinterfassade geschaffen, mit Giovanni Pisano verwechselt und darauf hin diesem die Hauptfassade zugeschrieben. Ich kann mich nur auf Romagnoli berufen, welcher die sie- nesischen Urkunden auch kannte und sich (Cenni, p. 14) dahin ausspricht: Giovanni Pisano habe 1284 die jetzige Hauptfassade begonnen und sei drei Jahre später zum Bürger der Stadt ernannt worden, beides laut dem Costi- tato III. Senese.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0155"n="133"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Dom von Siena.</hi></fw><lb/>
Gebäude Italiens, empfängt den Beschauer gleich mit einer Reihe von<lb/>
Räthselfragen, welche der Verfasser so wenig als die meisten Andern<lb/>
zu lösen im Stande ist. Wurde die sechseckige Kuppel, welche oben<lb/>
zu einem total unregelmässigen, schief gezogenen Zwölfeck wird und<lb/>
ohnehin den Bau auf jede Weise unterbricht, zuerst (XII. Jahrhun-<lb/>
dert) gebaut? Wesshalb die schiefen und krummen Linien im Haupt-<lb/>
schiff und vollends die schiefe Richtung und die unregelmässigen Pfei-<lb/>
lerintervalle im ganzen Chor? hat man vielleicht auf vereinzelte Stücke<lb/>
Felsgrund mehr als billige Rücksicht genommen? Was war von der Un-<lb/>
terkirche San Giovanni vorhanden, als man den obern Chor begann? (Vgl.<lb/>
S. 103 ff.) — Wie dem auch sei, es spricht sich in dem ganzen Gebäude<lb/>
der italienische Bausinn schön und gefällig aus. So besonders an<lb/>
den Aussenwänden der Seitenschiffe; das Massenverhältniss der Fen-<lb/>
ster zu den Mauern (ein Begriff, welchen die consequente nordische<lb/>
Gothik gar nicht anerkennt) ist hier ein sehr wohlthuendes; die Strebe-<lb/>
pfeiler, nur mässig vortretend, laufen oben nicht im Thürmchen, son-<lb/>
dern in Statuen aus; der schwarze Marmor, nur in seltenen Schichten<lb/>
den weissen unterbrechend, übertönt nicht die zarten Gliederungen,<lb/>
und das Kranzgesimse kann energisch wirken (XIV. Jahrhundert).<lb/>
Die Fassade (1284) <noteplace="foot"n="1)">Dass die Fassade von Siena eine primitivere Anlage zeigt als diejenige von<lb/>
Orvieto, lehrt der Augenschein. Dass sie von Giovanni Pisano entworfen<lb/>
sei, läugnet Rumohr ohne einen Gegenbeweis zu leisten. Er meint: Vasari<lb/>
habe den Giovanni von Siena, welcher 1340 die Hinterfassade geschaffen,<lb/>
mit Giovanni Pisano verwechselt und darauf hin diesem die Hauptfassade<lb/>
zugeschrieben. Ich kann mich nur auf Romagnoli berufen, welcher die sie-<lb/>
nesischen Urkunden auch kannte und sich (Cenni, p. 14) dahin ausspricht:<lb/>
Giovanni Pisano habe 1284 die jetzige Hauptfassade begonnen und sei drei<lb/>
Jahre später zum Bürger der Stadt ernannt worden, beides laut dem Costi-<lb/>
tato III. Senese.</note>, mit ihrem majestätischen Reichthum, hat ganz<lb/>
die überströmende Energie des Giovanni Pisano (der wenigstens das<lb/>
Modell schuf) und konnte desshalb (einige Jahre später) von dem<lb/>
Baumeister des Domes von Orvieto an ruhiger Eleganz der Linien<lb/>
überboten werden. Die gothischen Einzelformen sind übrigens in ver-<lb/>
hältnissmässig reiner Tradition gehandhabt.</p><lb/><p>Im Innern hebt allerdings die Abwechselung des weissen und des<lb/></p></div></body></text></TEI>
[133/0155]
Dom von Siena.
Gebäude Italiens, empfängt den Beschauer gleich mit einer Reihe von
Räthselfragen, welche der Verfasser so wenig als die meisten Andern
zu lösen im Stande ist. Wurde die sechseckige Kuppel, welche oben
zu einem total unregelmässigen, schief gezogenen Zwölfeck wird und
ohnehin den Bau auf jede Weise unterbricht, zuerst (XII. Jahrhun-
dert) gebaut? Wesshalb die schiefen und krummen Linien im Haupt-
schiff und vollends die schiefe Richtung und die unregelmässigen Pfei-
lerintervalle im ganzen Chor? hat man vielleicht auf vereinzelte Stücke
Felsgrund mehr als billige Rücksicht genommen? Was war von der Un-
terkirche San Giovanni vorhanden, als man den obern Chor begann? (Vgl.
S. 103 ff.) — Wie dem auch sei, es spricht sich in dem ganzen Gebäude
der italienische Bausinn schön und gefällig aus. So besonders an
den Aussenwänden der Seitenschiffe; das Massenverhältniss der Fen-
ster zu den Mauern (ein Begriff, welchen die consequente nordische
Gothik gar nicht anerkennt) ist hier ein sehr wohlthuendes; die Strebe-
pfeiler, nur mässig vortretend, laufen oben nicht im Thürmchen, son-
dern in Statuen aus; der schwarze Marmor, nur in seltenen Schichten
den weissen unterbrechend, übertönt nicht die zarten Gliederungen,
und das Kranzgesimse kann energisch wirken (XIV. Jahrhundert).
Die Fassade (1284) 1), mit ihrem majestätischen Reichthum, hat ganz
die überströmende Energie des Giovanni Pisano (der wenigstens das
Modell schuf) und konnte desshalb (einige Jahre später) von dem
Baumeister des Domes von Orvieto an ruhiger Eleganz der Linien
überboten werden. Die gothischen Einzelformen sind übrigens in ver-
hältnissmässig reiner Tradition gehandhabt.
Im Innern hebt allerdings die Abwechselung des weissen und des
1) Dass die Fassade von Siena eine primitivere Anlage zeigt als diejenige von
Orvieto, lehrt der Augenschein. Dass sie von Giovanni Pisano entworfen
sei, läugnet Rumohr ohne einen Gegenbeweis zu leisten. Er meint: Vasari
habe den Giovanni von Siena, welcher 1340 die Hinterfassade geschaffen,
mit Giovanni Pisano verwechselt und darauf hin diesem die Hauptfassade
zugeschrieben. Ich kann mich nur auf Romagnoli berufen, welcher die sie-
nesischen Urkunden auch kannte und sich (Cenni, p. 14) dahin ausspricht:
Giovanni Pisano habe 1284 die jetzige Hauptfassade begonnen und sei drei
Jahre später zum Bürger der Stadt ernannt worden, beides laut dem Costi-
tato III. Senese.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/155>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.