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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Gothische Architektur.

Da der Maasstab, nach welchem wir verfahren, nicht der der
historischen Merkwürdigkeit, sondern der des bestimmten Stylbildes
ist, so müssen hier eine Menge Gebäude unentschiedener, disharmoni-
scher Bildung ungenannt bleiben. Italien ist ganz besonders reich an
wunderlich zusammengeflickten, theilweise aus alten Resten, theilweise
aus Zubauten aller Jahrhunderte bestehenden Kirchen; die Unterschei-
dung dieser verschiedenen Bestandtheile könnte ganze Abhandlungen
erfordern, ohne dass das künstlerische Verlangen dabei die geringste
Nahrung fände. Wir beschränken uns auf eine allgemeine Bemer-
kung, welche bei der Altersbestimmung vieler Gebäude zum Leitfaden
dienen kann: noch während der ganzen Herrschaft des germanischen
oder gothischen Baustyls in Italien (XIII. und XIV. Jahrhundert) wurde
unaufhörlich, zumal bei kleinern und entlegenern Bauten, an dem Rund-
bogenstyl aus Gewohnheit festgehalten. Da man ferner selbst an Haupt-
bauten dem gothischen Styl sein echtes Detail nur mit Widerstreben
und Missverstand abnahm, so bildete sich überhaupt keine so kennt-
liche, bis in das geringste Gesims, Blatt oder Thürmchen charakteri-
stische Formation aus, wie in der nordischen Gothik. Rechnet man
hinzu, dass die Italiener, selbst wo sie das Meiste beibehielten, doch
den Spitzbogen bald wieder aufgaben, so wird es nicht mehr befrem-
den, wenn ihre Kirchen des XIV. Jahrhunderts bisweilen von viel
frühern nur unwesentlich oder fast gar nicht abweichen.


Das Eindringen der germanischen oder gothischen Baufor-
men aus dem Norden war für die italienische Kunst ein Schicksal,
ein Unglück, wenn man will, doch letzteres nur für die Ungeschickten,
die sich auch sonst nicht würden zu helfen gewusst haben. Wenn
man z. B. am Baptisterium von Florenz das XIII. Jahrhundert auf dem
besten Wege zu einer harmonischen Schönheit in antikisirenden For-
men findet, so wird man sich auch bald überzeugen, dass unter der
kurz darauf eingedrungenen gothischen Zierform das Grundgefühl un-
verletzt blieb und sich gerade unter dieser Hülle auf das Herrlichste
ausbildete.

Gothische Architektur.

Da der Maasstab, nach welchem wir verfahren, nicht der der
historischen Merkwürdigkeit, sondern der des bestimmten Stylbildes
ist, so müssen hier eine Menge Gebäude unentschiedener, disharmoni-
scher Bildung ungenannt bleiben. Italien ist ganz besonders reich an
wunderlich zusammengeflickten, theilweise aus alten Resten, theilweise
aus Zubauten aller Jahrhunderte bestehenden Kirchen; die Unterschei-
dung dieser verschiedenen Bestandtheile könnte ganze Abhandlungen
erfordern, ohne dass das künstlerische Verlangen dabei die geringste
Nahrung fände. Wir beschränken uns auf eine allgemeine Bemer-
kung, welche bei der Altersbestimmung vieler Gebäude zum Leitfaden
dienen kann: noch während der ganzen Herrschaft des germanischen
oder gothischen Baustyls in Italien (XIII. und XIV. Jahrhundert) wurde
unaufhörlich, zumal bei kleinern und entlegenern Bauten, an dem Rund-
bogenstyl aus Gewohnheit festgehalten. Da man ferner selbst an Haupt-
bauten dem gothischen Styl sein echtes Detail nur mit Widerstreben
und Missverstand abnahm, so bildete sich überhaupt keine so kennt-
liche, bis in das geringste Gesims, Blatt oder Thürmchen charakteri-
stische Formation aus, wie in der nordischen Gothik. Rechnet man
hinzu, dass die Italiener, selbst wo sie das Meiste beibehielten, doch
den Spitzbogen bald wieder aufgaben, so wird es nicht mehr befrem-
den, wenn ihre Kirchen des XIV. Jahrhunderts bisweilen von viel
frühern nur unwesentlich oder fast gar nicht abweichen.


Das Eindringen der germanischen oder gothischen Baufor-
men aus dem Norden war für die italienische Kunst ein Schicksal,
ein Unglück, wenn man will, doch letzteres nur für die Ungeschickten,
die sich auch sonst nicht würden zu helfen gewusst haben. Wenn
man z. B. am Baptisterium von Florenz das XIII. Jahrhundert auf dem
besten Wege zu einer harmonischen Schönheit in antikisirenden For-
men findet, so wird man sich auch bald überzeugen, dass unter der
kurz darauf eingedrungenen gothischen Zierform das Grundgefühl un-
verletzt blieb und sich gerade unter dieser Hülle auf das Herrlichste
ausbildete.

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[124/0146] Gothische Architektur. Da der Maasstab, nach welchem wir verfahren, nicht der der historischen Merkwürdigkeit, sondern der des bestimmten Stylbildes ist, so müssen hier eine Menge Gebäude unentschiedener, disharmoni- scher Bildung ungenannt bleiben. Italien ist ganz besonders reich an wunderlich zusammengeflickten, theilweise aus alten Resten, theilweise aus Zubauten aller Jahrhunderte bestehenden Kirchen; die Unterschei- dung dieser verschiedenen Bestandtheile könnte ganze Abhandlungen erfordern, ohne dass das künstlerische Verlangen dabei die geringste Nahrung fände. Wir beschränken uns auf eine allgemeine Bemer- kung, welche bei der Altersbestimmung vieler Gebäude zum Leitfaden dienen kann: noch während der ganzen Herrschaft des germanischen oder gothischen Baustyls in Italien (XIII. und XIV. Jahrhundert) wurde unaufhörlich, zumal bei kleinern und entlegenern Bauten, an dem Rund- bogenstyl aus Gewohnheit festgehalten. Da man ferner selbst an Haupt- bauten dem gothischen Styl sein echtes Detail nur mit Widerstreben und Missverstand abnahm, so bildete sich überhaupt keine so kennt- liche, bis in das geringste Gesims, Blatt oder Thürmchen charakteri- stische Formation aus, wie in der nordischen Gothik. Rechnet man hinzu, dass die Italiener, selbst wo sie das Meiste beibehielten, doch den Spitzbogen bald wieder aufgaben, so wird es nicht mehr befrem- den, wenn ihre Kirchen des XIV. Jahrhunderts bisweilen von viel frühern nur unwesentlich oder fast gar nicht abweichen. Das Eindringen der germanischen oder gothischen Baufor- men aus dem Norden war für die italienische Kunst ein Schicksal, ein Unglück, wenn man will, doch letzteres nur für die Ungeschickten, die sich auch sonst nicht würden zu helfen gewusst haben. Wenn man z. B. am Baptisterium von Florenz das XIII. Jahrhundert auf dem besten Wege zu einer harmonischen Schönheit in antikisirenden For- men findet, so wird man sich auch bald überzeugen, dass unter der kurz darauf eingedrungenen gothischen Zierform das Grundgefühl un- verletzt blieb und sich gerade unter dieser Hülle auf das Herrlichste ausbildete.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/146>, abgerufen am 24.11.2024.