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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Schiefbau und Bauungleichheiten.
der Griechen, die Säulenhalle als belebten Ausdruck der Wand ringsum
zu führen, ist hier mit der grössten Kühnheit auf ein mehrstöckiges
Gebäude übertragen; es sind viel mehr als blosse Galerien, es ist eine
ideale Hülle, die den Thurm umschwebt und die in ihrer Art densel-

Den besten Schlüssel gewährt S. Marco in Venedig. Auf einer Lagu-*
neninsel errichtet, zeigt dieses Gebäude vor Allem in seinen verticalen Thei-
len und Flächen viele unwillkürliche Schiefheiten, doch keine eigentlich auf-
fallende, indem ohne Zweifel das Mögliche geschah, um sie zu vermeiden.
(Der Fussboden der Kirche mit seinen wellenförmigen Unebenheiten beweist
am besten, welche Opfer man bringen musste, um wenigstens Pfeilern und
Mauern eine leidlich lothrechte Stellung zu sichern.) Sehr auffallend dage-
gen ist die Ungleichheit und Unregelmässigkeit sämmtlicher Bogen und Wöl-
bungen, selbst der Kuppelränder. Anfangs ist man versucht, dieselbe von
dem Ausweichen der Pfeiler und Mauern abzuleiten, welches auch in der
That hie und da die Schuld tragen mag; bei längerer Betrachtung dagegen
überzeugt man sich, dass die reine Gleichgültigkeit gegen das Regelmässige
der wesentliche Grund ist. Ich glaube, dass schon die Lehrbogen nicht ein-
mal genau gemessen waren. Man betrachte z. B. die obern Wandbogen an
der Südseite des Aeussern; sie sind krumm und unter sich ungleich, obschon
es hier ganz leicht gewesen wäre sie im reinsten Halbkreis zu construiren
und ihnen diese Form auf immer zu sichern; auch an eine ästhetische Ab-
sicht wird hier Niemand denken wollen, da die bunte Verschiedenheit des
Details schon Abwechselung genug mit sich bringt.
Auf diesen Vorgang gestützt dürfen wir auch in Pisa das (doch sehr
unmerkliche) Überhängen der Domkuppel nach hinten für eine blosse Unge-
nauigkeit, die schiefe Stellung des Baptisteriums (wovon ich mich näher zu
überzeugen versäumt habe) für die Folge einer Bodensenkung halten. -- Für
die krummen Linien, ungenauen Parallelen, ungleichen Intervalle am Äussern
des Domes würde ebenfalls S. Marco bündige Analogien bieten; eine nähere
Vergleichung aber gewährt z. B. die Südseite des Domes von Ferrara, wel-**
che von auffallenden Ungleichheiten der Intervalle, Krümmungen der Horizon-
talen u. dgl. wimmelt, während die Anspruchlosigkeit des Baues jeden Ge-
danken an ästhetische Intention ausschliesst.
Die mathematische Regelmässigkeit, welche mit den bald zu nennenden
florentinischen Bauten den Sieg davonträgt, musste eintreten schon in Folge
der strengern Plastik des Details, welche von selbst auf genaue Vermessung
hindrängt; sie war es, welche z. B. an S. Marco noch völlig fehlte. --
Allerdings giebt es noch weit spätere Räthsel, wie z. B. der Dom von
Siena, welche wir als Räthsel müssen auf sich beruhen lassen.

Schiefbau und Bauungleichheiten.
der Griechen, die Säulenhalle als belebten Ausdruck der Wand ringsum
zu führen, ist hier mit der grössten Kühnheit auf ein mehrstöckiges
Gebäude übertragen; es sind viel mehr als blosse Galerien, es ist eine
ideale Hülle, die den Thurm umschwebt und die in ihrer Art densel-

Den besten Schlüssel gewährt S. Marco in Venedig. Auf einer Lagu-*
neninsel errichtet, zeigt dieses Gebäude vor Allem in seinen verticalen Thei-
len und Flächen viele unwillkürliche Schiefheiten, doch keine eigentlich auf-
fallende, indem ohne Zweifel das Mögliche geschah, um sie zu vermeiden.
(Der Fussboden der Kirche mit seinen wellenförmigen Unebenheiten beweist
am besten, welche Opfer man bringen musste, um wenigstens Pfeilern und
Mauern eine leidlich lothrechte Stellung zu sichern.) Sehr auffallend dage-
gen ist die Ungleichheit und Unregelmässigkeit sämmtlicher Bogen und Wöl-
bungen, selbst der Kuppelränder. Anfangs ist man versucht, dieselbe von
dem Ausweichen der Pfeiler und Mauern abzuleiten, welches auch in der
That hie und da die Schuld tragen mag; bei längerer Betrachtung dagegen
überzeugt man sich, dass die reine Gleichgültigkeit gegen das Regelmässige
der wesentliche Grund ist. Ich glaube, dass schon die Lehrbogen nicht ein-
mal genau gemessen waren. Man betrachte z. B. die obern Wandbogen an
der Südseite des Aeussern; sie sind krumm und unter sich ungleich, obschon
es hier ganz leicht gewesen wäre sie im reinsten Halbkreis zu construiren
und ihnen diese Form auf immer zu sichern; auch an eine ästhetische Ab-
sicht wird hier Niemand denken wollen, da die bunte Verschiedenheit des
Details schon Abwechselung genug mit sich bringt.
Auf diesen Vorgang gestützt dürfen wir auch in Pisa das (doch sehr
unmerkliche) Überhängen der Domkuppel nach hinten für eine blosse Unge-
nauigkeit, die schiefe Stellung des Baptisteriums (wovon ich mich näher zu
überzeugen versäumt habe) für die Folge einer Bodensenkung halten. — Für
die krummen Linien, ungenauen Parallelen, ungleichen Intervalle am Äussern
des Domes würde ebenfalls S. Marco bündige Analogien bieten; eine nähere
Vergleichung aber gewährt z. B. die Südseite des Domes von Ferrara, wel-**
che von auffallenden Ungleichheiten der Intervalle, Krümmungen der Horizon-
talen u. dgl. wimmelt, während die Anspruchlosigkeit des Baues jeden Ge-
danken an ästhetische Intention ausschliesst.
Die mathematische Regelmässigkeit, welche mit den bald zu nennenden
florentinischen Bauten den Sieg davonträgt, musste eintreten schon in Folge
der strengern Plastik des Details, welche von selbst auf genaue Vermessung
hindrängt; sie war es, welche z. B. an S. Marco noch völlig fehlte. —
Allerdings giebt es noch weit spätere Räthsel, wie z. B. der Dom von
Siena, welche wir als Räthsel müssen auf sich beruhen lassen.
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[105/0127] Schiefbau und Bauungleichheiten. der Griechen, die Säulenhalle als belebten Ausdruck der Wand ringsum zu führen, ist hier mit der grössten Kühnheit auf ein mehrstöckiges Gebäude übertragen; es sind viel mehr als blosse Galerien, es ist eine ideale Hülle, die den Thurm umschwebt und die in ihrer Art densel- 1) 1) Den besten Schlüssel gewährt S. Marco in Venedig. Auf einer Lagu- neninsel errichtet, zeigt dieses Gebäude vor Allem in seinen verticalen Thei- len und Flächen viele unwillkürliche Schiefheiten, doch keine eigentlich auf- fallende, indem ohne Zweifel das Mögliche geschah, um sie zu vermeiden. (Der Fussboden der Kirche mit seinen wellenförmigen Unebenheiten beweist am besten, welche Opfer man bringen musste, um wenigstens Pfeilern und Mauern eine leidlich lothrechte Stellung zu sichern.) Sehr auffallend dage- gen ist die Ungleichheit und Unregelmässigkeit sämmtlicher Bogen und Wöl- bungen, selbst der Kuppelränder. Anfangs ist man versucht, dieselbe von dem Ausweichen der Pfeiler und Mauern abzuleiten, welches auch in der That hie und da die Schuld tragen mag; bei längerer Betrachtung dagegen überzeugt man sich, dass die reine Gleichgültigkeit gegen das Regelmässige der wesentliche Grund ist. Ich glaube, dass schon die Lehrbogen nicht ein- mal genau gemessen waren. Man betrachte z. B. die obern Wandbogen an der Südseite des Aeussern; sie sind krumm und unter sich ungleich, obschon es hier ganz leicht gewesen wäre sie im reinsten Halbkreis zu construiren und ihnen diese Form auf immer zu sichern; auch an eine ästhetische Ab- sicht wird hier Niemand denken wollen, da die bunte Verschiedenheit des Details schon Abwechselung genug mit sich bringt. Auf diesen Vorgang gestützt dürfen wir auch in Pisa das (doch sehr unmerkliche) Überhängen der Domkuppel nach hinten für eine blosse Unge- nauigkeit, die schiefe Stellung des Baptisteriums (wovon ich mich näher zu überzeugen versäumt habe) für die Folge einer Bodensenkung halten. — Für die krummen Linien, ungenauen Parallelen, ungleichen Intervalle am Äussern des Domes würde ebenfalls S. Marco bündige Analogien bieten; eine nähere Vergleichung aber gewährt z. B. die Südseite des Domes von Ferrara, wel- che von auffallenden Ungleichheiten der Intervalle, Krümmungen der Horizon- talen u. dgl. wimmelt, während die Anspruchlosigkeit des Baues jeden Ge- danken an ästhetische Intention ausschliesst. Die mathematische Regelmässigkeit, welche mit den bald zu nennenden florentinischen Bauten den Sieg davonträgt, musste eintreten schon in Folge der strengern Plastik des Details, welche von selbst auf genaue Vermessung hindrängt; sie war es, welche z. B. an S. Marco noch völlig fehlte. — Allerdings giebt es noch weit spätere Räthsel, wie z. B. der Dom von Siena, welche wir als Räthsel müssen auf sich beruhen lassen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/127>, abgerufen am 28.11.2024.