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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Romanische Architektur. Thurm von Pisa.
Gliederung des Details wieder um einen Grad einfacher und das roma-
nische Capitäl mit seiner derben Blätterbildung hat entschieden das
Übergewicht vor dem römischen. Der Composition nach ist dieses
einzige Gebäude eines der schönsten des Mittelalters. Das Princip

den sein. Dann ist gerade der Ausbau des Thurmes von Pisa ein immerhin
sehr auffallendes Werk dieser Art; die meisten Bauverwaltungen hätten den
Thurm, als er sich senkte, unvollendet gelassen oder auf bessern Fundamen-
ten neu angefangen; der pisanische Übermuth aber liess sich auf das Schwie-
rige und vielleicht damals noch Unerhörte ein.
Weit die meisten schiefen Gebäude aber sind es ohne Absicht des
Baumeisters geworden, durch ungenügende Fundamente. Das Pilotiren, als
einzige Sicherung bei morastiger oder sonst bodenloser Beschaffenheit der
Erde, scheint nur ungleich und allmälig aufgekommen zu sein; die Frühern
machten sich auf die Senkung des Baues unter solchen Umständen gefasst
und kamen dem Schaden durch Dicke der Mauern, Verklammerungen u. s. w.
zuvor. Einen sprechenden Beleg liefert noch Pisa selbst; der von N. Pisano
*erbaute Thurm von S. Nicola steht sehr merklich schief, allein doch lange
nicht schief genug, um als Werk der Kühnheit mit dem berühmten Campa-
nile wetteifern zu können, welches schon als Gebäude so viel bedeutender
ist; an eine Absicht lässt sich hier nicht denken, wohl aber an eine Voraus-
sicht, wie aus der starken Bildung des Mauercylinders hervorgeht. Ebenso
**ist am Dom von Modena die wahrhaft bedrohlich aussehende Neigung des
ganzen Hinterbaues gegen den ebenfalls geneigten Campanile offenbar eine
unabsichtliche, nur dass der letztere allerdings mit Rücksicht auf diesen Um-
+stand ausgebaut sein mag. (Dagegen stehen Dom und Baptisterium in Par-
++ma völlig lothrecht.) Am Dom von Ferrara neigt die Fassade nicht un-
bedeutend vor, gewiss gegen den Willen des Baumeisters.
Kunstgeschichtlich viel wichtiger wäre die Ansicht Förster's über den
Zusammenhang des pisanischen Schiefbaues mit den Ungleichheiten der
Vermessung
, schrägen und krummen Baulinien, unentsprechenden Inter-
vallen etc.; in all diesem spreche sich nämlich eine Scheu vor dem Mathe-
matischen, vor der völligen Gleichförmigkeit aus; es seien diess: "die unbe-
holfensten Aeusserungen romantischer Bestrebungen" Da man an griechi-
schen Tempeln (vgl. S. 5) etwas Analoges unbedingt zugeben muss, so hat
diese Annahme etwas sehr Anziehendes. Ich glaube indess die betreffenden
Phänomene anders erklären zu müssen, und zwar nicht durch Mangel an Ge-
schicklichkeit -- wovon an den edeln pisanischen Bauten keine Rede sein
kann -- sondern durch eine dem frühern Mittelalter eigene Gleichgültig-
keit
gegen das mathematisch Genaue. Letzteres verstand sich durchaus
nicht immer so von selbst wie es sich jetzt versteht.

Romanische Architektur. Thurm von Pisa.
Gliederung des Details wieder um einen Grad einfacher und das roma-
nische Capitäl mit seiner derben Blätterbildung hat entschieden das
Übergewicht vor dem römischen. Der Composition nach ist dieses
einzige Gebäude eines der schönsten des Mittelalters. Das Princip

den sein. Dann ist gerade der Ausbau des Thurmes von Pisa ein immerhin
sehr auffallendes Werk dieser Art; die meisten Bauverwaltungen hätten den
Thurm, als er sich senkte, unvollendet gelassen oder auf bessern Fundamen-
ten neu angefangen; der pisanische Übermuth aber liess sich auf das Schwie-
rige und vielleicht damals noch Unerhörte ein.
Weit die meisten schiefen Gebäude aber sind es ohne Absicht des
Baumeisters geworden, durch ungenügende Fundamente. Das Pilotiren, als
einzige Sicherung bei morastiger oder sonst bodenloser Beschaffenheit der
Erde, scheint nur ungleich und allmälig aufgekommen zu sein; die Frühern
machten sich auf die Senkung des Baues unter solchen Umständen gefasst
und kamen dem Schaden durch Dicke der Mauern, Verklammerungen u. s. w.
zuvor. Einen sprechenden Beleg liefert noch Pisa selbst; der von N. Pisano
*erbaute Thurm von S. Nicola steht sehr merklich schief, allein doch lange
nicht schief genug, um als Werk der Kühnheit mit dem berühmten Campa-
nile wetteifern zu können, welches schon als Gebäude so viel bedeutender
ist; an eine Absicht lässt sich hier nicht denken, wohl aber an eine Voraus-
sicht, wie aus der starken Bildung des Mauercylinders hervorgeht. Ebenso
**ist am Dom von Modena die wahrhaft bedrohlich aussehende Neigung des
ganzen Hinterbaues gegen den ebenfalls geneigten Campanile offenbar eine
unabsichtliche, nur dass der letztere allerdings mit Rücksicht auf diesen Um-
stand ausgebaut sein mag. (Dagegen stehen Dom und Baptisterium in Par-
††ma völlig lothrecht.) Am Dom von Ferrara neigt die Fassade nicht un-
bedeutend vor, gewiss gegen den Willen des Baumeisters.
Kunstgeschichtlich viel wichtiger wäre die Ansicht Förster’s über den
Zusammenhang des pisanischen Schiefbaues mit den Ungleichheiten der
Vermessung
, schrägen und krummen Baulinien, unentsprechenden Inter-
vallen etc.; in all diesem spreche sich nämlich eine Scheu vor dem Mathe-
matischen, vor der völligen Gleichförmigkeit aus; es seien diess: „die unbe-
holfensten Aeusserungen romantischer Bestrebungen“ Da man an griechi-
schen Tempeln (vgl. S. 5) etwas Analoges unbedingt zugeben muss, so hat
diese Annahme etwas sehr Anziehendes. Ich glaube indess die betreffenden
Phänomene anders erklären zu müssen, und zwar nicht durch Mangel an Ge-
schicklichkeit — wovon an den edeln pisanischen Bauten keine Rede sein
kann — sondern durch eine dem frühern Mittelalter eigene Gleichgültig-
keit
gegen das mathematisch Genaue. Letzteres verstand sich durchaus
nicht immer so von selbst wie es sich jetzt versteht.
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[104/0126] Romanische Architektur. Thurm von Pisa. Gliederung des Details wieder um einen Grad einfacher und das roma- nische Capitäl mit seiner derben Blätterbildung hat entschieden das Übergewicht vor dem römischen. Der Composition nach ist dieses einzige Gebäude eines der schönsten des Mittelalters. Das Princip 1) 1) den sein. Dann ist gerade der Ausbau des Thurmes von Pisa ein immerhin sehr auffallendes Werk dieser Art; die meisten Bauverwaltungen hätten den Thurm, als er sich senkte, unvollendet gelassen oder auf bessern Fundamen- ten neu angefangen; der pisanische Übermuth aber liess sich auf das Schwie- rige und vielleicht damals noch Unerhörte ein. Weit die meisten schiefen Gebäude aber sind es ohne Absicht des Baumeisters geworden, durch ungenügende Fundamente. Das Pilotiren, als einzige Sicherung bei morastiger oder sonst bodenloser Beschaffenheit der Erde, scheint nur ungleich und allmälig aufgekommen zu sein; die Frühern machten sich auf die Senkung des Baues unter solchen Umständen gefasst und kamen dem Schaden durch Dicke der Mauern, Verklammerungen u. s. w. zuvor. Einen sprechenden Beleg liefert noch Pisa selbst; der von N. Pisano erbaute Thurm von S. Nicola steht sehr merklich schief, allein doch lange nicht schief genug, um als Werk der Kühnheit mit dem berühmten Campa- nile wetteifern zu können, welches schon als Gebäude so viel bedeutender ist; an eine Absicht lässt sich hier nicht denken, wohl aber an eine Voraus- sicht, wie aus der starken Bildung des Mauercylinders hervorgeht. Ebenso ist am Dom von Modena die wahrhaft bedrohlich aussehende Neigung des ganzen Hinterbaues gegen den ebenfalls geneigten Campanile offenbar eine unabsichtliche, nur dass der letztere allerdings mit Rücksicht auf diesen Um- stand ausgebaut sein mag. (Dagegen stehen Dom und Baptisterium in Par- ma völlig lothrecht.) Am Dom von Ferrara neigt die Fassade nicht un- bedeutend vor, gewiss gegen den Willen des Baumeisters. Kunstgeschichtlich viel wichtiger wäre die Ansicht Förster’s über den Zusammenhang des pisanischen Schiefbaues mit den Ungleichheiten der Vermessung, schrägen und krummen Baulinien, unentsprechenden Inter- vallen etc.; in all diesem spreche sich nämlich eine Scheu vor dem Mathe- matischen, vor der völligen Gleichförmigkeit aus; es seien diess: „die unbe- holfensten Aeusserungen romantischer Bestrebungen“ Da man an griechi- schen Tempeln (vgl. S. 5) etwas Analoges unbedingt zugeben muss, so hat diese Annahme etwas sehr Anziehendes. Ich glaube indess die betreffenden Phänomene anders erklären zu müssen, und zwar nicht durch Mangel an Ge- schicklichkeit — wovon an den edeln pisanischen Bauten keine Rede sein kann — sondern durch eine dem frühern Mittelalter eigene Gleichgültig- keit gegen das mathematisch Genaue. Letzteres verstand sich durchaus nicht immer so von selbst wie es sich jetzt versteht.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/126>, abgerufen am 28.11.2024.