Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bunge, Gustav von: Der Vegetarianismus. Berlin, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite


haupte, sic alle mit einander haben das Experiment
noch nicht gemacht. Das Experiment zu machen
ist nicht so leicht. Die erste Forderung, die an ein
oxactes Expcrimcntum crucis gestellt werden muss,
ist die, dass die fragliche Ursache ceteris paribus
(unter sonst gleichen Bedingungen) entfernt werde,
um zu beobachten, welche Folgeerscheinungen weg-
fallen und dass dann ceteris paribus die fragliche
Ursache wieder eingeführt werde, um zu constatiren,
welche der fortgcfailenen Erscheinungen darauf wieder
zum Vorschein kommen. Es muss also das Fleisch
vermieden werden, ohne sonst etwas an der Lebens-
weise zu ändern.

Was thut nun aber der Vegetarianer? Er be-
geistert sich plötzlich für die Idee, "naturgemäss"
zu leben. Er schafft nun Alles ab, was irgend im
Verdachte steht, naturwidrig zu sein: nicht nur die
Fleischnahrung, sondern vor Allem auch alle narko-
tischen Genussmittel: den Tabak, den Kaffee, den
Thee, den Alkohol; alles Diniren und Soupiren
hört auf; alle Versuchung zur Unmässigkeit fällt
weg; er, der bisher ein Stubenhocker gewesen, wird
plötzlich ein fanatischer Spaziergänger; er kann nie
genug frische Luft haben; er ändert womöglich noch
die Kleidung, wird zugleich Jägerianer -- und wenn
er nun nach alledem sich wohler fühlt, dann soll
das Fleisch an allem früheren Unbehagen Schuld
gewesen sein.

Wir müssen den Hut ziehen vor jedem Men-
schen, der den Muth hat, gegen herrschende Meinun-


haupte, sic alle mit einander haben das Experiment
noch nicht gemacht. Das Experiment zu machen
ist nicht so leicht. Die erste Forderung, die an ein
oxactes Expcrimcntum crucis gestellt werden muss,
ist die, dass die fragliche Ursache ceteris paribus
(unter sonst gleichen Bedingungen) entfernt werde,
um zu beobachten, welche Folgeerscheinungen weg-
fallen und dass dann ceteris paribus die fragliche
Ursache wieder eingeführt werde, um zu constatiren,
welche der fortgcfailenen Erscheinungen darauf wieder
zum Vorschein kommen. Es muss also das Fleisch
vermieden werden, ohne sonst etwas an der Lebens-
weise zu ändern.

Was thut nun aber der Vegetarianer? Er be-
geistert sich plötzlich für die Idee, „naturgemäss“
zu leben. Er schafft nun Alles ab, was irgend im
Verdachte steht, naturwidrig zu sein: nicht nur die
Fleischnahrung, sondern vor Allem auch alle narko-
tischen Genussmittel: den Tabak, den Kaffee, den
Thee, den Alkohol; alles Diniren und Soupiren
hört auf; alle Versuchung zur Unmässigkeit fällt
weg; er, der bisher ein Stubenhocker gewesen, wird
plötzlich ein fanatischer Spaziergänger; er kann nie
genug frische Luft haben; er ändert womöglich noch
die Kleidung, wird zugleich Jägerianer — und wenn
er nun nach alledem sich wohler fühlt, dann soll
das Fleisch an allem früheren Unbehagen Schuld
gewesen sein.

Wir müssen den Hut ziehen vor jedem Men-
schen, der den Muth hat, gegen herrschende Meinun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="18"/><lb/>
haupte, sic alle mit einander haben das Experiment<lb/>
noch nicht gemacht. Das Experiment zu machen<lb/>
ist nicht so leicht. Die erste Forderung, die an ein<lb/>
oxactes Expcrimcntum crucis gestellt werden muss,<lb/>
ist die, dass die fragliche Ursache ceteris paribus<lb/>
(unter sonst gleichen Bedingungen) entfernt werde,<lb/>
um zu beobachten, welche Folgeerscheinungen weg-<lb/>
fallen und dass dann ceteris paribus die fragliche<lb/>
Ursache wieder eingeführt werde, um zu constatiren,<lb/>
welche der fortgcfailenen Erscheinungen darauf wieder<lb/>
zum Vorschein kommen. Es muss also das Fleisch<lb/>
vermieden werden, ohne sonst etwas an der Lebens-<lb/>
weise zu ändern.<lb/></p>
        <p> Was thut nun aber der Vegetarianer? Er be-<lb/>
geistert sich plötzlich für die Idee, &#x201E;naturgemäss&#x201C;<lb/>
zu leben. Er schafft nun Alles ab, was irgend im<lb/>
Verdachte steht, naturwidrig zu sein: nicht nur die<lb/>
Fleischnahrung, sondern vor Allem auch alle narko-<lb/>
tischen Genussmittel: den Tabak, den Kaffee, den<lb/>
Thee, den Alkohol; alles Diniren und Soupiren<lb/>
hört auf; alle Versuchung zur Unmässigkeit fällt<lb/>
weg; er, der bisher ein Stubenhocker gewesen, wird<lb/>
plötzlich ein fanatischer Spaziergänger; er kann nie<lb/>
genug frische Luft haben; er ändert womöglich noch<lb/>
die Kleidung, wird zugleich Jägerianer &#x2014; und wenn<lb/>
er nun nach alledem sich wohler fühlt, dann soll<lb/>
das Fleisch an allem früheren Unbehagen Schuld<lb/>
gewesen sein.<lb/></p>
        <p> Wir müssen den Hut ziehen vor jedem Men-<lb/>
schen, der den Muth hat, gegen herrschende Meinun-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0019] haupte, sic alle mit einander haben das Experiment noch nicht gemacht. Das Experiment zu machen ist nicht so leicht. Die erste Forderung, die an ein oxactes Expcrimcntum crucis gestellt werden muss, ist die, dass die fragliche Ursache ceteris paribus (unter sonst gleichen Bedingungen) entfernt werde, um zu beobachten, welche Folgeerscheinungen weg- fallen und dass dann ceteris paribus die fragliche Ursache wieder eingeführt werde, um zu constatiren, welche der fortgcfailenen Erscheinungen darauf wieder zum Vorschein kommen. Es muss also das Fleisch vermieden werden, ohne sonst etwas an der Lebens- weise zu ändern. Was thut nun aber der Vegetarianer? Er be- geistert sich plötzlich für die Idee, „naturgemäss“ zu leben. Er schafft nun Alles ab, was irgend im Verdachte steht, naturwidrig zu sein: nicht nur die Fleischnahrung, sondern vor Allem auch alle narko- tischen Genussmittel: den Tabak, den Kaffee, den Thee, den Alkohol; alles Diniren und Soupiren hört auf; alle Versuchung zur Unmässigkeit fällt weg; er, der bisher ein Stubenhocker gewesen, wird plötzlich ein fanatischer Spaziergänger; er kann nie genug frische Luft haben; er ändert womöglich noch die Kleidung, wird zugleich Jägerianer — und wenn er nun nach alledem sich wohler fühlt, dann soll das Fleisch an allem früheren Unbehagen Schuld gewesen sein. Wir müssen den Hut ziehen vor jedem Men- schen, der den Muth hat, gegen herrschende Meinun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bunge_vegetarianismus_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bunge_vegetarianismus_1885/19
Zitationshilfe: Bunge, Gustav von: Der Vegetarianismus. Berlin, 1885, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bunge_vegetarianismus_1885/19>, abgerufen am 24.11.2024.