der Freiheiten hinausgingen, andrerseits jedoch darin, daß die Praxis der Theorie immer weniger entsprach. Es war ja im Grunde gleichgiltig, ob der Großherzog von Hessen die Verfassung ehrlich halten wollte -- er konnte nicht, wie er wollte, weil die "gemeinsame Peitsche" des Bundestags auch über seinem Lande waltete und seine Regierung in reactio- näre Bahnen zwang. Allüberall in Süddeutschland vollzog sich von der Begründung constitutioneller Formen bis zur Be- wegung von 1830 mit geringen Variationen dasselbe tragi- komische Schauspiel: der Fürst schwankt anfänglich zwischen dem Druck der Reaction von Wien-Frankfurt her und dem Drucke des eigenen Gewissens, welches beschworene Eide zu halten heischt, bis es sich ersterem beugt; die Minister tanzen, hier verschämt, dort unverschämt, wie Metternich auf- spielt, lassen die Mainzer Central-Untersuchungs-Commission nach Herzenslust schalten und walten, reduciren durch "inter- pretirende Verordnungen" die Freiheiten der Verfassung, wahren jedoch dabei, so gut es glücken will, den Schein constitutioneller Gesinnung; die Kammern kämpfen, hier energisch, dort ängstlich gegen die innere und äußere Reac- tion, bis sie, durch die Erfolglosigkeit ihrer Mühen und durch die polizeiliche Verfolgung ihrer Führer muthlos ge- macht, ihren Freisinn fast nur noch durch übertrieben radi- cale, aber unpraktische und daher hohen Orts minder miß- liebige Anträge, z. B. auf Abschaffung des Cölibats der katholischen Geistlichkeit, Luft machen; das Volk endlich verliert nur allmählig, aber dafür um so gründlicher das Vertrauen in die Ehrlichkeit seiner Regierung, in die Nützlichkeit des Constitutionalismus, es empfindet bitter, daß eine solche Repräsentativverfassung nur "ein ungenießbares Schaugericht,
der Freiheiten hinausgingen, andrerſeits jedoch darin, daß die Praxis der Theorie immer weniger entſprach. Es war ja im Grunde gleichgiltig, ob der Großherzog von Heſſen die Verfaſſung ehrlich halten wollte — er konnte nicht, wie er wollte, weil die "gemeinſame Peitſche" des Bundestags auch über ſeinem Lande waltete und ſeine Regierung in reactio- näre Bahnen zwang. Allüberall in Süddeutſchland vollzog ſich von der Begründung conſtitutioneller Formen bis zur Be- wegung von 1830 mit geringen Variationen daſſelbe tragi- komiſche Schauſpiel: der Fürſt ſchwankt anfänglich zwiſchen dem Druck der Reaction von Wien-Frankfurt her und dem Drucke des eigenen Gewiſſens, welches beſchworene Eide zu halten heiſcht, bis es ſich erſterem beugt; die Miniſter tanzen, hier verſchämt, dort unverſchämt, wie Metternich auf- ſpielt, laſſen die Mainzer Central-Unterſuchungs-Commiſſion nach Herzensluſt ſchalten und walten, reduciren durch "inter- pretirende Verordnungen" die Freiheiten der Verfaſſung, wahren jedoch dabei, ſo gut es glücken will, den Schein conſtitutioneller Geſinnung; die Kammern kämpfen, hier energiſch, dort ängſtlich gegen die innere und äußere Reac- tion, bis ſie, durch die Erfolgloſigkeit ihrer Mühen und durch die polizeiliche Verfolgung ihrer Führer muthlos ge- macht, ihren Freiſinn faſt nur noch durch übertrieben radi- cale, aber unpraktiſche und daher hohen Orts minder miß- liebige Anträge, z. B. auf Abſchaffung des Cölibats der katholiſchen Geiſtlichkeit, Luft machen; das Volk endlich verliert nur allmählig, aber dafür um ſo gründlicher das Vertrauen in die Ehrlichkeit ſeiner Regierung, in die Nützlichkeit des Conſtitutionalismus, es empfindet bitter, daß eine ſolche Repräſentativverfaſſung nur "ein ungenießbares Schaugericht,
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[LXXVII/0093]
der Freiheiten hinausgingen, andrerſeits jedoch darin, daß
die Praxis der Theorie immer weniger entſprach. Es war
ja im Grunde gleichgiltig, ob der Großherzog von Heſſen
die Verfaſſung ehrlich halten wollte — er konnte nicht, wie
er wollte, weil die "gemeinſame Peitſche" des Bundestags
auch über ſeinem Lande waltete und ſeine Regierung in reactio-
näre Bahnen zwang. Allüberall in Süddeutſchland vollzog
ſich von der Begründung conſtitutioneller Formen bis zur Be-
wegung von 1830 mit geringen Variationen daſſelbe tragi-
komiſche Schauſpiel: der Fürſt ſchwankt anfänglich zwiſchen
dem Druck der Reaction von Wien-Frankfurt her und dem
Drucke des eigenen Gewiſſens, welches beſchworene Eide zu
halten heiſcht, bis es ſich erſterem beugt; die Miniſter
tanzen, hier verſchämt, dort unverſchämt, wie Metternich auf-
ſpielt, laſſen die Mainzer Central-Unterſuchungs-Commiſſion
nach Herzensluſt ſchalten und walten, reduciren durch "inter-
pretirende Verordnungen" die Freiheiten der Verfaſſung,
wahren jedoch dabei, ſo gut es glücken will, den Schein
conſtitutioneller Geſinnung; die Kammern kämpfen, hier
energiſch, dort ängſtlich gegen die innere und äußere Reac-
tion, bis ſie, durch die Erfolgloſigkeit ihrer Mühen und
durch die polizeiliche Verfolgung ihrer Führer muthlos ge-
macht, ihren Freiſinn faſt nur noch durch übertrieben radi-
cale, aber unpraktiſche und daher hohen Orts minder miß-
liebige Anträge, z. B. auf Abſchaffung des Cölibats der
katholiſchen Geiſtlichkeit, Luft machen; das Volk endlich verliert
nur allmählig, aber dafür um ſo gründlicher das Vertrauen
in die Ehrlichkeit ſeiner Regierung, in die Nützlichkeit des
Conſtitutionalismus, es empfindet bitter, daß eine ſolche
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/93>, abgerufen am 25.11.2024.
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