Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem, ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist ab- scheulich". Mehr als der Bauart dieser winkeligen Gassen gilt wohl dies letztere Prädicat dem beengten Leben. Gießen für Straßburg -- das war in jeder Beziehung ein schlim- mer Tausch. So anregend das heitere Leben der schönen großen Stadt auf ihn gewirkt, so lähmend empfand er die dumpfe Stille der gelehrten Kleinstadt. Und diese Stille zeitweilig durch dieselben geräuschvollen Vergnügungen zu vertreiben, wie die meisten seiner Commilitonen, das behagte Büchner nicht. Wie er sich in Straßburg jenen Cafes fern- gehalten, wo die Anderen, nach französischer Studenten- sitte, Absynth oder Majagran trinkend und Cigaretten rauchend den lieben langen Tag todt schlugen und die Nacht dazu, so mied er in Gießen Bierhäuser und Kneipgelage. "Man muß zuweilen commersiren" -- dieser kategorische Im- perativ des deutschen Studentenliedes fand an ihm taube Ohren. Und wie diesen feuchten Freuden, so hielt er sich überhaupt dem Verbindungswesen ferne. Freilich kann man fast in jeder biographischen Notiz über unseren Dichter lesen, daß er Burschenschafter gewesen, und die Züricher Studenten haben bei der Enthüllung seines Denkmals, 1875, diesen Umstand stark betont. Gleichwohl ist gerade das Gegen- theil richtig: Büchner war nie Mitglied der Burschenschaft und ist sogar, wie wir später sehen werden, in scharfen Gegensatz, wenn nicht zu ihren Zwecken, so doch zu ihren Mitteln getreten. Denn die Zwecke waren ihm sympathisch, aber die bunte Mütze und das dreifärbige Band erschienen ihm wie Kinderspielzeug, der Biercomment und die Mensur
Berg, wo die Ausſicht frei ſei. Hügel hinter Hügel und breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem, ich kann mich nicht an dieſe Natur gewöhnen, und die Stadt iſt ab- ſcheulich". Mehr als der Bauart dieſer winkeligen Gaſſen gilt wohl dies letztere Prädicat dem beengten Leben. Gießen für Straßburg — das war in jeder Beziehung ein ſchlim- mer Tauſch. So anregend das heitere Leben der ſchönen großen Stadt auf ihn gewirkt, ſo lähmend empfand er die dumpfe Stille der gelehrten Kleinſtadt. Und dieſe Stille zeitweilig durch dieſelben geräuſchvollen Vergnügungen zu vertreiben, wie die meiſten ſeiner Commilitonen, das behagte Büchner nicht. Wie er ſich in Straßburg jenen Cafés fern- gehalten, wo die Anderen, nach franzöſiſcher Studenten- ſitte, Abſynth oder Majagran trinkend und Cigaretten rauchend den lieben langen Tag todt ſchlugen und die Nacht dazu, ſo mied er in Gießen Bierhäuſer und Kneipgelage. "Man muß zuweilen commerſiren" — dieſer kategoriſche Im- perativ des deutſchen Studentenliedes fand an ihm taube Ohren. Und wie dieſen feuchten Freuden, ſo hielt er ſich überhaupt dem Verbindungsweſen ferne. Freilich kann man faſt in jeder biographiſchen Notiz über unſeren Dichter leſen, daß er Burſchenſchafter geweſen, und die Züricher Studenten haben bei der Enthüllung ſeines Denkmals, 1875, dieſen Umſtand ſtark betont. Gleichwohl iſt gerade das Gegen- theil richtig: Büchner war nie Mitglied der Burſchenſchaft und iſt ſogar, wie wir ſpäter ſehen werden, in ſcharfen Gegenſatz, wenn nicht zu ihren Zwecken, ſo doch zu ihren Mitteln getreten. Denn die Zwecke waren ihm ſympathiſch, aber die bunte Mütze und das dreifärbige Band erſchienen ihm wie Kinderſpielzeug, der Biercomment und die Menſur
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[LXVIII/0084]
Berg, wo die Ausſicht frei ſei. Hügel hinter Hügel und
breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem, ich kann
mich nicht an dieſe Natur gewöhnen, und die Stadt iſt ab-
ſcheulich". Mehr als der Bauart dieſer winkeligen Gaſſen
gilt wohl dies letztere Prädicat dem beengten Leben. Gießen
für Straßburg — das war in jeder Beziehung ein ſchlim-
mer Tauſch. So anregend das heitere Leben der ſchönen
großen Stadt auf ihn gewirkt, ſo lähmend empfand er die
dumpfe Stille der gelehrten Kleinſtadt. Und dieſe Stille
zeitweilig durch dieſelben geräuſchvollen Vergnügungen zu
vertreiben, wie die meiſten ſeiner Commilitonen, das behagte
Büchner nicht. Wie er ſich in Straßburg jenen Cafés fern-
gehalten, wo die Anderen, nach franzöſiſcher Studenten-
ſitte, Abſynth oder Majagran trinkend und Cigaretten rauchend
den lieben langen Tag todt ſchlugen und die Nacht dazu,
ſo mied er in Gießen Bierhäuſer und Kneipgelage. "Man
muß zuweilen commerſiren" — dieſer kategoriſche Im-
perativ des deutſchen Studentenliedes fand an ihm taube
Ohren. Und wie dieſen feuchten Freuden, ſo hielt er ſich
überhaupt dem Verbindungsweſen ferne. Freilich kann man
faſt in jeder biographiſchen Notiz über unſeren Dichter leſen,
daß er Burſchenſchafter geweſen, und die Züricher Studenten
haben bei der Enthüllung ſeines Denkmals, 1875, dieſen
Umſtand ſtark betont. Gleichwohl iſt gerade das Gegen-
theil richtig: Büchner war nie Mitglied der Burſchenſchaft
und iſt ſogar, wie wir ſpäter ſehen werden, in ſcharfen
Gegenſatz, wenn nicht zu ihren Zwecken, ſo doch zu ihren
Mitteln getreten. Denn die Zwecke waren ihm ſympathiſch,
aber die bunte Mütze und das dreifärbige Band erſchienen
ihm wie Kinderſpielzeug, der Biercomment und die Menſur
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/84>, abgerufen am 26.11.2024.
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