Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Willen und der Sohn fügte sich. Vielleicht tröstete ihn in
Darmstadt die Hoffnung, daß er auch künftig sich und dem
Vater in gleicher Weise werde gerecht werden können; in
Gießen mußte er erkennen, daß dies unmöglich sei. Erstlich
schon deßhalb, weil jede dieser Richtungen sicherlich ihren
ganzen Mann fordert und ferner, weil selten ein Mensch so
wenig dazu getaugt, zweien Herren zu dienen, als dieser
Jüngling voll herber Entschiedenheit. Er stand am Scheide-
wege, und welchen Pfad er einschlagen würde, konnte nach
seiner ganzen Artung nicht zweifelhaft sein; dieser trotzige,
wahre Mensch durfte nur seinem eigenen Drange folgen.
Nun -- er hat gleichwohl das Entgegengesetzte gethan: er
widmete sich der praktischen Medizin. Es ist dies die erste
und einzige Untreue gegen sich selbst, die wir an diesem stäh-
lernen Charakter nachweisen können; sie hat kurze Zeit ge-
währt und er hat sie bitter gebüßt. Was ihn hierzu ver-
mocht, war sicherlich weniger die Hoffnung, auf diesem Wege
leichter und rascher die Vereinigung mit der Geliebten her-
beizuführen, als die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict
wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald un-
ausweislich zu einem völligen Bruche geführt hätte. Einen
naheliegenden Ausweg zu wählen: scheinbar des Vaters, in
Wahrheit den eigenen Willen zu thun -- dazu war er zu
stolz und zu ehrlich. So entsagte er denn seinen bisherigen
Strebungen, besuchte fleißig Vorlesung und Klinik und that
seine Pflicht. Aber sie fiel ihm schwer und von Tag zu
Tage schwerer. Je näher er seinen neuen Studien trat,
desto mehr widerten sie ihn an, und tiefer als die Pein,
diesen Widerwillen täglich von Neuem niederkämpfen zu
müssen, tiefer als die Sehnsucht nach seinen früheren Studien,

Willen und der Sohn fügte ſich. Vielleicht tröſtete ihn in
Darmſtadt die Hoffnung, daß er auch künftig ſich und dem
Vater in gleicher Weiſe werde gerecht werden können; in
Gießen mußte er erkennen, daß dies unmöglich ſei. Erſtlich
ſchon deßhalb, weil jede dieſer Richtungen ſicherlich ihren
ganzen Mann fordert und ferner, weil ſelten ein Menſch ſo
wenig dazu getaugt, zweien Herren zu dienen, als dieſer
Jüngling voll herber Entſchiedenheit. Er ſtand am Scheide-
wege, und welchen Pfad er einſchlagen würde, konnte nach
ſeiner ganzen Artung nicht zweifelhaft ſein; dieſer trotzige,
wahre Menſch durfte nur ſeinem eigenen Drange folgen.
Nun — er hat gleichwohl das Entgegengeſetzte gethan: er
widmete ſich der praktiſchen Medizin. Es iſt dies die erſte
und einzige Untreue gegen ſich ſelbſt, die wir an dieſem ſtäh-
lernen Charakter nachweiſen können; ſie hat kurze Zeit ge-
währt und er hat ſie bitter gebüßt. Was ihn hierzu ver-
mocht, war ſicherlich weniger die Hoffnung, auf dieſem Wege
leichter und raſcher die Vereinigung mit der Geliebten her-
beizuführen, als die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict
wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald un-
ausweislich zu einem völligen Bruche geführt hätte. Einen
naheliegenden Ausweg zu wählen: ſcheinbar des Vaters, in
Wahrheit den eigenen Willen zu thun — dazu war er zu
ſtolz und zu ehrlich. So entſagte er denn ſeinen bisherigen
Strebungen, beſuchte fleißig Vorleſung und Klinik und that
ſeine Pflicht. Aber ſie fiel ihm ſchwer und von Tag zu
Tage ſchwerer. Je näher er ſeinen neuen Studien trat,
deſto mehr widerten ſie ihn an, und tiefer als die Pein,
dieſen Widerwillen täglich von Neuem niederkämpfen zu
müſſen, tiefer als die Sehnſucht nach ſeinen früheren Studien,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0079" n="LXIII"/>
Willen und der Sohn fügte &#x017F;ich. Vielleicht trö&#x017F;tete ihn in<lb/>
Darm&#x017F;tadt die Hoffnung, daß er auch künftig &#x017F;ich und dem<lb/>
Vater in gleicher Wei&#x017F;e werde gerecht werden können; in<lb/>
Gießen mußte er erkennen, daß dies unmöglich &#x017F;ei. Er&#x017F;tlich<lb/>
&#x017F;chon deßhalb, weil jede die&#x017F;er Richtungen &#x017F;icherlich ihren<lb/>
ganzen Mann fordert und ferner, weil &#x017F;elten ein Men&#x017F;ch &#x017F;o<lb/>
wenig dazu getaugt, zweien Herren zu dienen, als die&#x017F;er<lb/>
Jüngling voll herber Ent&#x017F;chiedenheit. Er &#x017F;tand am Scheide-<lb/>
wege, und welchen Pfad er ein&#x017F;chlagen würde, konnte nach<lb/>
&#x017F;einer ganzen Artung nicht zweifelhaft &#x017F;ein; die&#x017F;er trotzige,<lb/>
wahre Men&#x017F;ch durfte nur &#x017F;einem eigenen Drange folgen.<lb/>
Nun &#x2014; er hat gleichwohl das Entgegenge&#x017F;etzte gethan: er<lb/>
widmete &#x017F;ich der prakti&#x017F;chen Medizin. Es i&#x017F;t dies die er&#x017F;te<lb/>
und einzige Untreue gegen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, die wir an die&#x017F;em &#x017F;täh-<lb/>
lernen Charakter nachwei&#x017F;en können; &#x017F;ie hat kurze Zeit ge-<lb/>
währt und er hat &#x017F;ie bitter gebüßt. Was ihn hierzu ver-<lb/>
mocht, war &#x017F;icherlich weniger die Hoffnung, auf die&#x017F;em Wege<lb/>
leichter und ra&#x017F;cher die Vereinigung mit der Geliebten her-<lb/>
beizuführen, als die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict<lb/>
wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald un-<lb/>
ausweislich zu einem völligen Bruche geführt hätte. Einen<lb/>
naheliegenden Ausweg zu wählen: &#x017F;cheinbar des Vaters, in<lb/>
Wahrheit den eigenen Willen zu thun &#x2014; dazu war er zu<lb/>
&#x017F;tolz und zu ehrlich. So ent&#x017F;agte er denn &#x017F;einen bisherigen<lb/>
Strebungen, be&#x017F;uchte fleißig Vorle&#x017F;ung und Klinik und that<lb/>
&#x017F;eine Pflicht. Aber &#x017F;ie fiel ihm &#x017F;chwer und von Tag zu<lb/>
Tage &#x017F;chwerer. Je näher er &#x017F;einen neuen Studien trat,<lb/>
de&#x017F;to mehr widerten &#x017F;ie ihn an, und tiefer als die Pein,<lb/>
die&#x017F;en Widerwillen täglich von Neuem niederkämpfen zu<lb/>&#x017F;&#x017F;en, tiefer als die Sehn&#x017F;ucht nach &#x017F;einen früheren Studien,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[LXIII/0079] Willen und der Sohn fügte ſich. Vielleicht tröſtete ihn in Darmſtadt die Hoffnung, daß er auch künftig ſich und dem Vater in gleicher Weiſe werde gerecht werden können; in Gießen mußte er erkennen, daß dies unmöglich ſei. Erſtlich ſchon deßhalb, weil jede dieſer Richtungen ſicherlich ihren ganzen Mann fordert und ferner, weil ſelten ein Menſch ſo wenig dazu getaugt, zweien Herren zu dienen, als dieſer Jüngling voll herber Entſchiedenheit. Er ſtand am Scheide- wege, und welchen Pfad er einſchlagen würde, konnte nach ſeiner ganzen Artung nicht zweifelhaft ſein; dieſer trotzige, wahre Menſch durfte nur ſeinem eigenen Drange folgen. Nun — er hat gleichwohl das Entgegengeſetzte gethan: er widmete ſich der praktiſchen Medizin. Es iſt dies die erſte und einzige Untreue gegen ſich ſelbſt, die wir an dieſem ſtäh- lernen Charakter nachweiſen können; ſie hat kurze Zeit ge- währt und er hat ſie bitter gebüßt. Was ihn hierzu ver- mocht, war ſicherlich weniger die Hoffnung, auf dieſem Wege leichter und raſcher die Vereinigung mit der Geliebten her- beizuführen, als die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald un- ausweislich zu einem völligen Bruche geführt hätte. Einen naheliegenden Ausweg zu wählen: ſcheinbar des Vaters, in Wahrheit den eigenen Willen zu thun — dazu war er zu ſtolz und zu ehrlich. So entſagte er denn ſeinen bisherigen Strebungen, beſuchte fleißig Vorleſung und Klinik und that ſeine Pflicht. Aber ſie fiel ihm ſchwer und von Tag zu Tage ſchwerer. Je näher er ſeinen neuen Studien trat, deſto mehr widerten ſie ihn an, und tiefer als die Pein, dieſen Widerwillen täglich von Neuem niederkämpfen zu müſſen, tiefer als die Sehnſucht nach ſeinen früheren Studien,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/79
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/79>, abgerufen am 26.11.2024.