aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studiren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affec- tirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller. Daß übrigens noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn die Regierungen müssen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind. Ich halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen, und werde jede wahrhaft ästhetische Kritik mit Dank an- nehmen. --
Habt ihr von dem gewaltigen Blitzstrahl gehört, der vor einigen Tagen das Münster getroffen hat? Nie habe ich einen solchen Feuerglanz gesehen und einen solchen Schlag
23 *
aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, ſo gut, wie aus dem Studium der Geſchichte und der Beobachtung deſſen, was im menſchlichen Leben um ſie herum vorgeht. Wenn man ſo wollte, dürfte man keine Geſchichte ſtudiren, weil ſehr viele unmoraliſche Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über die Gaſſe gehen, weil man ſonſt Unanſtändigkeiten ſehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter ſchreien, der eine Welt erſchaffen, worauf ſo viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch ſagen wollte, der Dichter müſſe die Welt nicht zeigen wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſolle, ſo antworte ich, daß ich es nicht beſſer machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie ſie ſein ſoll. Was noch die ſogenannten Idealdichter anbetrifft, ſo finde ich, daß ſie faſt nichts als Marionetten mit himmelblauen Naſen und affec- tirtem Pathos, aber nicht Menſchen von Fleiſch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abſcheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakſpeare, aber ſehr wenig auf Schiller. Daß übrigens noch die ungünſtigſten Kritiken erſcheinen werden, verſteht ſich von ſelbſt; denn die Regierungen müſſen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweiſen laſſen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unſittliche Menſchen ſind. Ich halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen, und werde jede wahrhaft äſthetiſche Kritik mit Dank an- nehmen. —
Habt ihr von dem gewaltigen Blitzſtrahl gehört, der vor einigen Tagen das Münſter getroffen hat? Nie habe ich einen ſolchen Feuerglanz geſehen und einen ſolchen Schlag
23 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0551"n="355"/>
aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, ſo gut,<lb/>
wie aus dem Studium der Geſchichte und der Beobachtung<lb/>
deſſen, was im menſchlichen Leben um ſie herum vorgeht.<lb/>
Wenn man <hirendition="#g">ſo</hi> wollte, dürfte man keine Geſchichte ſtudiren,<lb/>
weil ſehr viele unmoraliſche Dinge darin erzählt werden,<lb/>
müßte mit verbundenen Augen über die Gaſſe gehen, weil<lb/>
man ſonſt Unanſtändigkeiten ſehen könnte, und müßte über<lb/>
einen Gott Zeter ſchreien, der eine Welt erſchaffen, worauf<lb/>ſo viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens<lb/>
noch ſagen wollte, der Dichter müſſe die Welt nicht zeigen<lb/>
wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſolle, ſo antworte ich, daß<lb/>
ich es nicht beſſer machen will, als der liebe Gott, der die<lb/>
Welt gewiß gemacht hat, wie ſie ſein ſoll. Was noch die<lb/>ſogenannten Idealdichter anbetrifft, ſo finde ich, daß ſie faſt<lb/>
nichts als Marionetten mit himmelblauen Naſen und affec-<lb/>
tirtem Pathos, aber nicht Menſchen von Fleiſch und Blut<lb/>
gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden<lb/>
macht, und deren Thun und Handeln mir Abſcheu oder<lb/>
Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf<lb/>
Goethe und Shakſpeare, aber ſehr wenig auf Schiller. Daß<lb/>
übrigens noch die ungünſtigſten Kritiken erſcheinen werden,<lb/>
verſteht ſich von ſelbſt; denn die Regierungen müſſen doch<lb/>
durch ihre bezahlten Schreiber beweiſen laſſen, daß ihre<lb/>
Gegner Dummköpfe oder unſittliche Menſchen ſind. Ich<lb/>
halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen,<lb/>
und werde jede wahrhaft äſthetiſche Kritik mit Dank an-<lb/>
nehmen. —</p><lb/><p>Habt ihr von dem gewaltigen Blitzſtrahl gehört, der<lb/>
vor einigen Tagen das Münſter getroffen hat? Nie habe<lb/>
ich einen ſolchen Feuerglanz geſehen und einen ſolchen Schlag<lb/><fwplace="bottom"type="sig">23 *</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[355/0551]
aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, ſo gut,
wie aus dem Studium der Geſchichte und der Beobachtung
deſſen, was im menſchlichen Leben um ſie herum vorgeht.
Wenn man ſo wollte, dürfte man keine Geſchichte ſtudiren,
weil ſehr viele unmoraliſche Dinge darin erzählt werden,
müßte mit verbundenen Augen über die Gaſſe gehen, weil
man ſonſt Unanſtändigkeiten ſehen könnte, und müßte über
einen Gott Zeter ſchreien, der eine Welt erſchaffen, worauf
ſo viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens
noch ſagen wollte, der Dichter müſſe die Welt nicht zeigen
wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſolle, ſo antworte ich, daß
ich es nicht beſſer machen will, als der liebe Gott, der die
Welt gewiß gemacht hat, wie ſie ſein ſoll. Was noch die
ſogenannten Idealdichter anbetrifft, ſo finde ich, daß ſie faſt
nichts als Marionetten mit himmelblauen Naſen und affec-
tirtem Pathos, aber nicht Menſchen von Fleiſch und Blut
gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden
macht, und deren Thun und Handeln mir Abſcheu oder
Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf
Goethe und Shakſpeare, aber ſehr wenig auf Schiller. Daß
übrigens noch die ungünſtigſten Kritiken erſcheinen werden,
verſteht ſich von ſelbſt; denn die Regierungen müſſen doch
durch ihre bezahlten Schreiber beweiſen laſſen, daß ihre
Gegner Dummköpfe oder unſittliche Menſchen ſind. Ich
halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen,
und werde jede wahrhaft äſthetiſche Kritik mit Dank an-
nehmen. —
Habt ihr von dem gewaltigen Blitzſtrahl gehört, der
vor einigen Tagen das Münſter getroffen hat? Nie habe
ich einen ſolchen Feuerglanz geſehen und einen ſolchen Schlag
23 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/551>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.