Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

sische möglichst vollständig erlernen möge, überwog diese
Bedenken und gab für Straßburg den Ausschlag. Ernstliche
Hindernisse stellten sich der Ausführung nicht entgegen. Georg
war des Französischen genügend mächtig, und die Mutter
widersprach nicht, weil ihr in dieser Stadt Verwandte wohnten,
denen sie den Lieblingssohn empfehlen konnte. In den
ersten Oktobertagen von 1831 traf er, über Carlsruhe
kommend, in der altehrwürdigen und doch anmuthigen Münster-
stadt ein ...

Georg Büchner ist, geringe Unterbrechungen abgerechnet,
zwei Jahre in Straßburg geblieben. Es sind dies die glück-
lichsten, heitersten Jahre seines Lebens gewesen, dabei von
bestimmendstem Einfluß auf sein späteres Geschick. Hier ge-
wann er volle Klarheit über seine wissenschaftliche Eignung,
hier erhielt sein politischer Enthusiasmus den Schliff und die
Schärfe einer bestimmten Parteimeinung, hier erlebte sein
Herz den Frühling seiner ersten und einzigen Liebe. Ehe
wir hiervon berichten, seien einige Bemerkungen über die
geistige Atmosphäre vorangestellt, in die der junge Student
da gerieth.

Man kennt das anschauliche und reizvolle Bild, welches
Goethe in "Wahrheit und Dichtung" von der Stadt und Hoch-
schule entwirft. Wohl waren, als er sich am 18. April
1770 in die Matrikeln einschrieb, bereits neunzig Jahre seit
jenem unseligen Septembertage verflossen, da die alte Reichs-
stadt, von Kaiser und Reich verlassen, ihre Thore dem Heere
Louvois' hatte öffnen müssen, aber noch waren Leben und
Lehre im Wesentlichen geblieben, wie sie einst gewesen: deutsch
und protestantisch. "Elsaß", bemerkt er, "war noch nicht
lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch

ſiſche möglichſt vollſtändig erlernen möge, überwog dieſe
Bedenken und gab für Straßburg den Ausſchlag. Ernſtliche
Hinderniſſe ſtellten ſich der Ausführung nicht entgegen. Georg
war des Franzöſiſchen genügend mächtig, und die Mutter
widerſprach nicht, weil ihr in dieſer Stadt Verwandte wohnten,
denen ſie den Lieblingsſohn empfehlen konnte. In den
erſten Oktobertagen von 1831 traf er, über Carlsruhe
kommend, in der altehrwürdigen und doch anmuthigen Münſter-
ſtadt ein ...

Georg Büchner iſt, geringe Unterbrechungen abgerechnet,
zwei Jahre in Straßburg geblieben. Es ſind dies die glück-
lichſten, heiterſten Jahre ſeines Lebens geweſen, dabei von
beſtimmendſtem Einfluß auf ſein ſpäteres Geſchick. Hier ge-
wann er volle Klarheit über ſeine wiſſenſchaftliche Eignung,
hier erhielt ſein politiſcher Enthuſiasmus den Schliff und die
Schärfe einer beſtimmten Parteimeinung, hier erlebte ſein
Herz den Frühling ſeiner erſten und einzigen Liebe. Ehe
wir hiervon berichten, ſeien einige Bemerkungen über die
geiſtige Atmoſphäre vorangeſtellt, in die der junge Student
da gerieth.

Man kennt das anſchauliche und reizvolle Bild, welches
Goethe in "Wahrheit und Dichtung" von der Stadt und Hoch-
ſchule entwirft. Wohl waren, als er ſich am 18. April
1770 in die Matrikeln einſchrieb, bereits neunzig Jahre ſeit
jenem unſeligen Septembertage verfloſſen, da die alte Reichs-
ſtadt, von Kaiſer und Reich verlaſſen, ihre Thore dem Heere
Louvois' hatte öffnen müſſen, aber noch waren Leben und
Lehre im Weſentlichen geblieben, wie ſie einſt geweſen: deutſch
und proteſtantiſch. "Elſaß", bemerkt er, "war noch nicht
lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0053" n="XXXVII"/>
&#x017F;i&#x017F;che möglich&#x017F;t voll&#x017F;tändig erlernen möge, überwog die&#x017F;e<lb/>
Bedenken und gab für Straßburg den Aus&#x017F;chlag. Ern&#x017F;tliche<lb/>
Hinderni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;tellten &#x017F;ich der Ausführung nicht entgegen. Georg<lb/>
war des Franzö&#x017F;i&#x017F;chen genügend mächtig, und die Mutter<lb/>
wider&#x017F;prach nicht, weil ihr in die&#x017F;er Stadt Verwandte wohnten,<lb/>
denen &#x017F;ie den Lieblings&#x017F;ohn empfehlen konnte. In den<lb/>
er&#x017F;ten Oktobertagen von 1831 traf er, über Carlsruhe<lb/>
kommend, in der altehrwürdigen und doch anmuthigen Mün&#x017F;ter-<lb/>
&#x017F;tadt ein ...</p><lb/>
        <p>Georg Büchner i&#x017F;t, geringe Unterbrechungen abgerechnet,<lb/>
zwei Jahre in Straßburg geblieben. Es &#x017F;ind dies die glück-<lb/>
lich&#x017F;ten, heiter&#x017F;ten Jahre &#x017F;eines Lebens gewe&#x017F;en, dabei von<lb/>
be&#x017F;timmend&#x017F;tem Einfluß auf &#x017F;ein &#x017F;päteres Ge&#x017F;chick. Hier ge-<lb/>
wann er volle Klarheit über &#x017F;eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Eignung,<lb/>
hier erhielt &#x017F;ein politi&#x017F;cher Enthu&#x017F;iasmus den Schliff und die<lb/>
Schärfe einer be&#x017F;timmten Parteimeinung, hier erlebte &#x017F;ein<lb/>
Herz den Frühling &#x017F;einer er&#x017F;ten und einzigen Liebe. Ehe<lb/>
wir hiervon berichten, &#x017F;eien einige Bemerkungen über die<lb/>
gei&#x017F;tige Atmo&#x017F;phäre vorange&#x017F;tellt, in die der junge Student<lb/>
da gerieth.</p><lb/>
        <p>Man kennt das an&#x017F;chauliche und reizvolle Bild, welches<lb/>
Goethe in "Wahrheit und Dichtung" von der Stadt und Hoch-<lb/>
&#x017F;chule entwirft. Wohl waren, als er &#x017F;ich am 18. April<lb/>
1770 in die Matrikeln ein&#x017F;chrieb, bereits neunzig Jahre &#x017F;eit<lb/>
jenem un&#x017F;eligen Septembertage verflo&#x017F;&#x017F;en, da die alte Reichs-<lb/>
&#x017F;tadt, von Kai&#x017F;er und Reich verla&#x017F;&#x017F;en, ihre Thore dem Heere<lb/>
Louvois' hatte öffnen mü&#x017F;&#x017F;en, aber noch waren Leben und<lb/>
Lehre im We&#x017F;entlichen geblieben, wie &#x017F;ie ein&#x017F;t gewe&#x017F;en: deut&#x017F;ch<lb/>
und prote&#x017F;tanti&#x017F;ch. "El&#x017F;aß", bemerkt er, "war noch nicht<lb/>
lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XXXVII/0053] ſiſche möglichſt vollſtändig erlernen möge, überwog dieſe Bedenken und gab für Straßburg den Ausſchlag. Ernſtliche Hinderniſſe ſtellten ſich der Ausführung nicht entgegen. Georg war des Franzöſiſchen genügend mächtig, und die Mutter widerſprach nicht, weil ihr in dieſer Stadt Verwandte wohnten, denen ſie den Lieblingsſohn empfehlen konnte. In den erſten Oktobertagen von 1831 traf er, über Carlsruhe kommend, in der altehrwürdigen und doch anmuthigen Münſter- ſtadt ein ... Georg Büchner iſt, geringe Unterbrechungen abgerechnet, zwei Jahre in Straßburg geblieben. Es ſind dies die glück- lichſten, heiterſten Jahre ſeines Lebens geweſen, dabei von beſtimmendſtem Einfluß auf ſein ſpäteres Geſchick. Hier ge- wann er volle Klarheit über ſeine wiſſenſchaftliche Eignung, hier erhielt ſein politiſcher Enthuſiasmus den Schliff und die Schärfe einer beſtimmten Parteimeinung, hier erlebte ſein Herz den Frühling ſeiner erſten und einzigen Liebe. Ehe wir hiervon berichten, ſeien einige Bemerkungen über die geiſtige Atmoſphäre vorangeſtellt, in die der junge Student da gerieth. Man kennt das anſchauliche und reizvolle Bild, welches Goethe in "Wahrheit und Dichtung" von der Stadt und Hoch- ſchule entwirft. Wohl waren, als er ſich am 18. April 1770 in die Matrikeln einſchrieb, bereits neunzig Jahre ſeit jenem unſeligen Septembertage verfloſſen, da die alte Reichs- ſtadt, von Kaiſer und Reich verlaſſen, ihre Thore dem Heere Louvois' hatte öffnen müſſen, aber noch waren Leben und Lehre im Weſentlichen geblieben, wie ſie einſt geweſen: deutſch und proteſtantiſch. "Elſaß", bemerkt er, "war noch nicht lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/53
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XXXVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/53>, abgerufen am 27.11.2024.