Schlafe, wie die Uhr pickte. Durch das leise Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das Sausen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle, bald verhüllte Mond warf sein wechselndes Licht traum- artig in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das Mädchen redete deutlich und bestimmt, sie sagte, wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche stehe. Lenz sah auf, und sie saß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem Tisch, und der Mond warf sein stilles Licht auf ihre Züge, von denen ein unheimlicher Glanz zu strahlen schien; zugleich schnarrte die Alte, und über diesem Wechseln und Sinken des Lichts, den Tönen und Stimmen schlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube schlief Alles, auch das Mädchen war ruhig geworden, sie lag zu- rückgelehnt, die Hände gefaltet unter der linken Wange; das Geisterhafte aus ihren Zügen war verschwunden, sie hatte jetzt einen Ausdruck unbeschreiblichen Leidens. Er trat ans Fenster und öffnete es, die kalte Morgenluft schlug ihm ent- gegen. Das Haus lag am Ende eines schmalen, tiefen Thales, das sich nach Osten öffnete, rothe Strahlen schossen durch den grauen Morgenhimmel in das dämmernde Thal, das im weißen Rauch lag, und funkelten am grauen Gestein und trafen in die Fenster der Hütten. Der Mann er- wachte, seine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, sie richteten sich fest und starr darauf, nun fing er an die Lippen zu bewegen und betete leise, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein, sie warfen sich schweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen, die Alte schnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
Schlafe, wie die Uhr pickte. Durch das leiſe Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das Sauſen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle, bald verhüllte Mond warf ſein wechſelndes Licht traum- artig in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das Mädchen redete deutlich und beſtimmt, ſie ſagte, wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche ſtehe. Lenz ſah auf, und ſie ſaß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem Tiſch, und der Mond warf ſein ſtilles Licht auf ihre Züge, von denen ein unheimlicher Glanz zu ſtrahlen ſchien; zugleich ſchnarrte die Alte, und über dieſem Wechſeln und Sinken des Lichts, den Tönen und Stimmen ſchlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube ſchlief Alles, auch das Mädchen war ruhig geworden, ſie lag zu- rückgelehnt, die Hände gefaltet unter der linken Wange; das Geiſterhafte aus ihren Zügen war verſchwunden, ſie hatte jetzt einen Ausdruck unbeſchreiblichen Leidens. Er trat ans Fenſter und öffnete es, die kalte Morgenluft ſchlug ihm ent- gegen. Das Haus lag am Ende eines ſchmalen, tiefen Thales, das ſich nach Oſten öffnete, rothe Strahlen ſchoſſen durch den grauen Morgenhimmel in das dämmernde Thal, das im weißen Rauch lag, und funkelten am grauen Geſtein und trafen in die Fenſter der Hütten. Der Mann er- wachte, ſeine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, ſie richteten ſich feſt und ſtarr darauf, nun fing er an die Lippen zu bewegen und betete leiſe, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein, ſie warfen ſich ſchweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen, die Alte ſchnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
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Schlafe, wie die Uhr pickte. Durch das leiſe Singen des
Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das
Sauſen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald
helle, bald verhüllte Mond warf ſein wechſelndes Licht traum-
artig in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das
Mädchen redete deutlich und beſtimmt, ſie ſagte, wie auf
der Klippe gegenüber eine Kirche ſtehe. Lenz ſah auf, und
ſie ſaß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem Tiſch,
und der Mond warf ſein ſtilles Licht auf ihre Züge, von
denen ein unheimlicher Glanz zu ſtrahlen ſchien; zugleich
ſchnarrte die Alte, und über dieſem Wechſeln und Sinken
des Lichts, den Tönen und Stimmen ſchlief endlich Lenz
tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube ſchlief
Alles, auch das Mädchen war ruhig geworden, ſie lag zu-
rückgelehnt, die Hände gefaltet unter der linken Wange; das
Geiſterhafte aus ihren Zügen war verſchwunden, ſie hatte
jetzt einen Ausdruck unbeſchreiblichen Leidens. Er trat ans
Fenſter und öffnete es, die kalte Morgenluft ſchlug ihm ent-
gegen. Das Haus lag am Ende eines ſchmalen, tiefen
Thales, das ſich nach Oſten öffnete, rothe Strahlen ſchoſſen
durch den grauen Morgenhimmel in das dämmernde Thal,
das im weißen Rauch lag, und funkelten am grauen Geſtein
und trafen in die Fenſter der Hütten. Der Mann er-
wachte, ſeine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der
Wand, ſie richteten ſich feſt und ſtarr darauf, nun fing er
an die Lippen zu bewegen und betete leiſe, dann laut und
immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein, ſie
warfen ſich ſchweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen,
die Alte ſchnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/420>, abgerufen am 22.11.2024.
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