dem Vater der Einfluß gewahrt. Den Tag über durch seinen Beruf und seine wissenschaftlichen Strebungen den Kindern ferngehalten, verlebte er regelmäßig die Abende mit ihnen. Wirkte da seine Eigenart auf ihren Charakter, so sicherlich auch sein Beruf auf ihre Phantasie. Die Kinder des vielbeschäftigten Arztes hörten früh von Krankheit und Tod, und als ein unheimlicher, unnahbarer Raum stand in dem spiegelblanken Hause das Laboratorium des Vaters und der mit menschlichen Skeletten angefüllte Schrank. Daß Georg oft, noch ganz erfüllt von dem Zauber der heimeligen Märchen, die ihm die Mutter erzählt, bange in jene Stube lugte, wo der Vater über einem Präparat gebückt saß -- dieser Eindruck hat sein Leben lang in ihm fortgeklungen ...
Und nicht blos dies Eine! Es gibt wenige Menschen, bei denen das geistige Erbe der Eltern und die Eindrücke der Kindheit von so bestimmendem Einfluß gewesen, als bei unserem Dichter und seinen Geschwistern (S. 457). Ihr Wesen, ihre Begabung, die insgesammt nicht blos vielseitig, sondern aus Gegensätzen gemischt ist, wird erst klar, wenn man auf jene Quellen der Individualität zurückgeht. Und wie Georg der vielseitigste und begabteste unter ihnen war, so ist auch bei ihm das Festhalten jener Beziehung am Noth- wendigsten. Nur so wird es erklärlich, wie dieser Jüngling zugleich ein echter Dichter und ein tüchtiger Naturforscher werden, wie er als Dichter seiner Neigung zum Märchen- haften, Maßlosen und Mystischen nachgeben und dabei als Naturforscher klar, maßvoll, nüchtern bleiben konnte. Nur so wird es erklärlich, wie er bei aller Vorliebe für französi- sches Wesen ein deutscher Patriot wurde. Aber nicht blos die Hauptsachen, auch tausend kleine Züge im Charakter,
G. Büchners Werke. b
dem Vater der Einfluß gewahrt. Den Tag über durch ſeinen Beruf und ſeine wiſſenſchaftlichen Strebungen den Kindern ferngehalten, verlebte er regelmäßig die Abende mit ihnen. Wirkte da ſeine Eigenart auf ihren Charakter, ſo ſicherlich auch ſein Beruf auf ihre Phantaſie. Die Kinder des vielbeſchäftigten Arztes hörten früh von Krankheit und Tod, und als ein unheimlicher, unnahbarer Raum ſtand in dem ſpiegelblanken Hauſe das Laboratorium des Vaters und der mit menſchlichen Skeletten angefüllte Schrank. Daß Georg oft, noch ganz erfüllt von dem Zauber der heimeligen Märchen, die ihm die Mutter erzählt, bange in jene Stube lugte, wo der Vater über einem Präparat gebückt ſaß — dieſer Eindruck hat ſein Leben lang in ihm fortgeklungen ...
Und nicht blos dies Eine! Es gibt wenige Menſchen, bei denen das geiſtige Erbe der Eltern und die Eindrücke der Kindheit von ſo beſtimmendem Einfluß geweſen, als bei unſerem Dichter und ſeinen Geſchwiſtern (S. 457). Ihr Weſen, ihre Begabung, die insgeſammt nicht blos vielſeitig, ſondern aus Gegenſätzen gemiſcht iſt, wird erſt klar, wenn man auf jene Quellen der Individualität zurückgeht. Und wie Georg der vielſeitigſte und begabteſte unter ihnen war, ſo iſt auch bei ihm das Feſthalten jener Beziehung am Noth- wendigſten. Nur ſo wird es erklärlich, wie dieſer Jüngling zugleich ein echter Dichter und ein tüchtiger Naturforſcher werden, wie er als Dichter ſeiner Neigung zum Märchen- haften, Maßloſen und Myſtiſchen nachgeben und dabei als Naturforſcher klar, maßvoll, nüchtern bleiben konnte. Nur ſo wird es erklärlich, wie er bei aller Vorliebe für franzöſi- ſches Weſen ein deutſcher Patriot wurde. Aber nicht blos die Hauptſachen, auch tauſend kleine Züge im Charakter,
G. Büchners Werke. b
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[XVII/0033]
dem Vater der Einfluß gewahrt. Den Tag über durch
ſeinen Beruf und ſeine wiſſenſchaftlichen Strebungen den
Kindern ferngehalten, verlebte er regelmäßig die Abende mit
ihnen. Wirkte da ſeine Eigenart auf ihren Charakter, ſo
ſicherlich auch ſein Beruf auf ihre Phantaſie. Die Kinder
des vielbeſchäftigten Arztes hörten früh von Krankheit und
Tod, und als ein unheimlicher, unnahbarer Raum ſtand in
dem ſpiegelblanken Hauſe das Laboratorium des Vaters
und der mit menſchlichen Skeletten angefüllte Schrank. Daß
Georg oft, noch ganz erfüllt von dem Zauber der heimeligen
Märchen, die ihm die Mutter erzählt, bange in jene Stube lugte,
wo der Vater über einem Präparat gebückt ſaß — dieſer
Eindruck hat ſein Leben lang in ihm fortgeklungen ...
Und nicht blos dies Eine! Es gibt wenige Menſchen,
bei denen das geiſtige Erbe der Eltern und die Eindrücke
der Kindheit von ſo beſtimmendem Einfluß geweſen, als bei
unſerem Dichter und ſeinen Geſchwiſtern (S. 457). Ihr
Weſen, ihre Begabung, die insgeſammt nicht blos vielſeitig,
ſondern aus Gegenſätzen gemiſcht iſt, wird erſt klar, wenn
man auf jene Quellen der Individualität zurückgeht. Und
wie Georg der vielſeitigſte und begabteſte unter ihnen war,
ſo iſt auch bei ihm das Feſthalten jener Beziehung am Noth-
wendigſten. Nur ſo wird es erklärlich, wie dieſer Jüngling
zugleich ein echter Dichter und ein tüchtiger Naturforſcher
werden, wie er als Dichter ſeiner Neigung zum Märchen-
haften, Maßloſen und Myſtiſchen nachgeben und dabei als
Naturforſcher klar, maßvoll, nüchtern bleiben konnte. Nur
ſo wird es erklärlich, wie er bei aller Vorliebe für franzöſi-
ſches Weſen ein deutſcher Patriot wurde. Aber nicht blos
die Hauptſachen, auch tauſend kleine Züge im Charakter,
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/33>, abgerufen am 23.11.2024.
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