Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.
behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver- derben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend saß ich am Fenster, ich bin sehr reizbar und hänge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zusammen; ich versank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber sahen aus den Fenstern. Ich sah hinunter, sie trugen ihn in einem Korbe vorbei, der Mond schien auf seine bleiche Stirn, seine Locken waren feucht, er hatte sich ersäuft. Ich mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem Wesen. Die anderen Leute haben Sonn- und Werktage, sie arbeiten sechs Tage und beten am siebenten, sie sind jedes Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen Absatz, keine Veränderung; ich bin immer nur Eins, ein ununterbrochenes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom. Meine Mutter ist vor Gram gestorben; die Leute weisen mit Fingern auf mich, das ist dumm. Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Weingläsern, an Blumen oder Kinderspiel- sachen; es ist das nämliche Gefühl; wer am meisten genießt, betet am meisten. Danton. Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz in mich fassen, sie nicht ganz umschließen? Marion. Danton, deine Lippen haben Augen. Danton. Ich möchte ein Theil des Aethers sein, um dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle deines schönen Leibes zu brechen.
behalten und es brauchen, es würde ſich ſchon von ſelbſt abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver- derben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend ſaß ich am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zuſammen; ich verſank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber ſahen aus den Fenſtern. Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn in einem Korbe vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche Stirn, ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem Weſen. Die anderen Leute haben Sonn- und Werktage, ſie arbeiten ſechs Tage und beten am ſiebenten, ſie ſind jedes Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen Abſatz, keine Veränderung; ich bin immer nur Eins, ein ununterbrochenes Sehnen und Faſſen, eine Gluth, ein Strom. Meine Mutter iſt vor Gram geſtorben; die Leute weiſen mit Fingern auf mich, das iſt dumm. Es läuft auf eins hinaus, an was man ſeine Freude hat, an Leibern, Chriſtusbildern, Weingläſern, an Blumen oder Kinderſpiel- ſachen; es iſt das nämliche Gefühl; wer am meiſten genießt, betet am meiſten. Danton. Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz in mich faſſen, ſie nicht ganz umſchließen? Marion. Danton, deine Lippen haben Augen. Danton. Ich möchte ein Theil des Aethers ſein, um dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle deines ſchönen Leibes zu brechen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div type="act" n="3"> <div type="scene" n="4"> <sp who="#MARION"> <p><pb facs="#f0220" n="24"/> behalten und es brauchen, es würde ſich ſchon von ſelbſt<lb/> abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver-<lb/> derben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann<lb/> ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend<lb/> ſaß ich am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit<lb/> Allem um mich nur durch eine Empfindung zuſammen; ich<lb/> verſank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe<lb/> die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber<lb/> ſahen aus den Fenſtern. Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn<lb/> in einem Korbe vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche<lb/> Stirn, ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich<lb/> mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem<lb/> Weſen. Die anderen Leute haben Sonn- und Werktage, ſie<lb/> arbeiten ſechs Tage und beten am ſiebenten, ſie ſind jedes<lb/> Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerührt und denken auf<lb/> Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne<lb/> keinen Abſatz, keine Veränderung; ich bin immer nur Eins,<lb/> ein ununterbrochenes Sehnen und Faſſen, eine Gluth, ein<lb/> Strom. Meine Mutter iſt vor Gram geſtorben; die Leute<lb/> weiſen mit Fingern auf mich, das iſt dumm. Es läuft auf<lb/> eins hinaus, an was man ſeine Freude hat, an Leibern,<lb/> Chriſtusbildern, Weingläſern, an Blumen oder Kinderſpiel-<lb/> ſachen; es iſt das nämliche Gefühl; wer am meiſten genießt,<lb/> betet am meiſten.</p> </sp><lb/> <sp who="#DANTON"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Danton.</hi> </hi> </speaker> <p>Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz<lb/> in mich faſſen, ſie nicht ganz umſchließen?</p> </sp><lb/> <sp who="#MARION"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Marion.</hi> </hi> </speaker> <p>Danton, deine Lippen haben Augen.</p> </sp><lb/> <sp who="#DANTON"> <speaker> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#b">Danton.</hi> </hi> </speaker> <p>Ich möchte ein Theil des Aethers ſein, um<lb/> dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle<lb/> deines ſchönen Leibes zu brechen.</p><lb/> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0220]
behalten und es brauchen, es würde ſich ſchon von ſelbſt
abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver-
derben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann
ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend
ſaß ich am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit
Allem um mich nur durch eine Empfindung zuſammen; ich
verſank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe
die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber
ſahen aus den Fenſtern. Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn
in einem Korbe vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche
Stirn, ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich
mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem
Weſen. Die anderen Leute haben Sonn- und Werktage, ſie
arbeiten ſechs Tage und beten am ſiebenten, ſie ſind jedes
Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerührt und denken auf
Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne
keinen Abſatz, keine Veränderung; ich bin immer nur Eins,
ein ununterbrochenes Sehnen und Faſſen, eine Gluth, ein
Strom. Meine Mutter iſt vor Gram geſtorben; die Leute
weiſen mit Fingern auf mich, das iſt dumm. Es läuft auf
eins hinaus, an was man ſeine Freude hat, an Leibern,
Chriſtusbildern, Weingläſern, an Blumen oder Kinderſpiel-
ſachen; es iſt das nämliche Gefühl; wer am meiſten genießt,
betet am meiſten.
Danton. Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz
in mich faſſen, ſie nicht ganz umſchließen?
Marion. Danton, deine Lippen haben Augen.
Danton. Ich möchte ein Theil des Aethers ſein, um
dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle
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