Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Worms, dann durch die Rheinpfalz an die französische Grenze,
welche er am 9. März 1835 bei Weißenburg überschritt.
Er hatte diese Grenzstation gewählt, weil er hier ohne Paß
durchzukommen hoffte, was auch gelang. Kaum in Sicher-
heit, schrieb er an die Eltern und theilte die Motive der
Flucht mit -- daß er sich in diesem Briefe (S. 344) an
Vater und Mutter wendet, spricht nicht gegen obige Ver-
muthung, da Dr. Büchner keinesfalls erfahren durfte, daß
seine Gattin Mitwisserin gewesen. Der Brief ist nach mancherlei
Richtung bemerkenswerth. Vor Allem muß es auffallen,
daß Büchner noch immer nicht die Wahrheit gesteht und sich
für einen ungerecht Verfolgten ausgibt. Vielleicht verhinderte
ihn der Trotz, die jahrelang festgehaltene Täuschung einzu-
gestehen, vielleicht auch das edlere Motiv, die Eltern in
ihrem tiefen Schmerze zu trösten. Hingegen kann es nicht
befremden, daß er als sein einziges Ziel "das Studium der
medicinisch-philosophischen Wissenschaften" bezeichnet und die
literarischen Hoffnungen, die ihn gerade damals so lebhaft
erfüllten, gänzlich verschweigt. Denn abgesehen davon, daß
er noch nichts von dem Schicksale seines Drama's erfahren,
mußte er jede Andeutung hierüber schon deßhalb unterlassen,
weil der Vater durch die Mittheilung von einer dichterischen
Arbeit nur noch heftiger erzürnt worden wäre. Auch hatte
er niemals die Absicht, seine materielle Existenz durch lite-
rarische Thätigkeit zu begründen. "Ruhm will ich davon
haben, nicht Brod", pflegte er später zu sagen. Im Ueb-
rigen athmet der Brief den frischen Lebensmuth des Ge-
retteten, der noch obendrein einem Wiedersehen mit der geliebten
Braut entgegensieht, und in dieser Stimmung bewegt ihn
auch das Bewußtsein, von nun ab keine Unterstützung von

Worms, dann durch die Rheinpfalz an die franzöſiſche Grenze,
welche er am 9. März 1835 bei Weißenburg überſchritt.
Er hatte dieſe Grenzſtation gewählt, weil er hier ohne Paß
durchzukommen hoffte, was auch gelang. Kaum in Sicher-
heit, ſchrieb er an die Eltern und theilte die Motive der
Flucht mit — daß er ſich in dieſem Briefe (S. 344) an
Vater und Mutter wendet, ſpricht nicht gegen obige Ver-
muthung, da Dr. Büchner keinesfalls erfahren durfte, daß
ſeine Gattin Mitwiſſerin geweſen. Der Brief iſt nach mancherlei
Richtung bemerkenswerth. Vor Allem muß es auffallen,
daß Büchner noch immer nicht die Wahrheit geſteht und ſich
für einen ungerecht Verfolgten ausgibt. Vielleicht verhinderte
ihn der Trotz, die jahrelang feſtgehaltene Täuſchung einzu-
geſtehen, vielleicht auch das edlere Motiv, die Eltern in
ihrem tiefen Schmerze zu tröſten. Hingegen kann es nicht
befremden, daß er als ſein einziges Ziel "das Studium der
mediciniſch-philoſophiſchen Wiſſenſchaften" bezeichnet und die
literariſchen Hoffnungen, die ihn gerade damals ſo lebhaft
erfüllten, gänzlich verſchweigt. Denn abgeſehen davon, daß
er noch nichts von dem Schickſale ſeines Drama's erfahren,
mußte er jede Andeutung hierüber ſchon deßhalb unterlaſſen,
weil der Vater durch die Mittheilung von einer dichteriſchen
Arbeit nur noch heftiger erzürnt worden wäre. Auch hatte
er niemals die Abſicht, ſeine materielle Exiſtenz durch lite-
rariſche Thätigkeit zu begründen. "Ruhm will ich davon
haben, nicht Brod", pflegte er ſpäter zu ſagen. Im Ueb-
rigen athmet der Brief den friſchen Lebensmuth des Ge-
retteten, der noch obendrein einem Wiederſehen mit der geliebten
Braut entgegenſieht, und in dieſer Stimmung bewegt ihn
auch das Bewußtſein, von nun ab keine Unterſtützung von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0178" n="CLXII"/>
Worms, dann durch die Rheinpfalz an die franzö&#x017F;i&#x017F;che Grenze,<lb/>
welche er am 9. März 1835 bei Weißenburg über&#x017F;chritt.<lb/>
Er hatte die&#x017F;e Grenz&#x017F;tation gewählt, weil er hier ohne Paß<lb/>
durchzukommen hoffte, was auch gelang. Kaum in Sicher-<lb/>
heit, &#x017F;chrieb er an die Eltern und theilte die Motive der<lb/>
Flucht mit &#x2014; daß er &#x017F;ich in die&#x017F;em Briefe (S. 344) an<lb/>
Vater <hi rendition="#g">und</hi> Mutter wendet, &#x017F;pricht nicht gegen obige Ver-<lb/>
muthung, da <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Büchner keinesfalls erfahren durfte, daß<lb/>
&#x017F;eine Gattin Mitwi&#x017F;&#x017F;erin gewe&#x017F;en. Der Brief i&#x017F;t nach mancherlei<lb/>
Richtung bemerkenswerth. Vor Allem muß es auffallen,<lb/>
daß Büchner noch immer nicht die Wahrheit ge&#x017F;teht und &#x017F;ich<lb/>
für einen ungerecht Verfolgten ausgibt. Vielleicht verhinderte<lb/>
ihn der Trotz, die jahrelang fe&#x017F;tgehaltene Täu&#x017F;chung einzu-<lb/>
ge&#x017F;tehen, vielleicht auch das edlere Motiv, die Eltern in<lb/>
ihrem tiefen Schmerze zu trö&#x017F;ten. Hingegen kann es nicht<lb/>
befremden, daß er als &#x017F;ein einziges Ziel "das Studium der<lb/>
medicini&#x017F;ch-philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften" bezeichnet und die<lb/>
literari&#x017F;chen Hoffnungen, die ihn gerade damals &#x017F;o lebhaft<lb/>
erfüllten, gänzlich ver&#x017F;chweigt. Denn abge&#x017F;ehen davon, daß<lb/>
er noch nichts von dem Schick&#x017F;ale &#x017F;eines Drama's erfahren,<lb/>
mußte er jede Andeutung hierüber &#x017F;chon deßhalb unterla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
weil der Vater durch die Mittheilung von einer dichteri&#x017F;chen<lb/>
Arbeit nur noch heftiger erzürnt worden wäre. Auch hatte<lb/>
er niemals die Ab&#x017F;icht, &#x017F;eine materielle Exi&#x017F;tenz durch lite-<lb/>
rari&#x017F;che Thätigkeit zu begründen. "Ruhm will ich davon<lb/>
haben, nicht Brod", pflegte er &#x017F;päter zu &#x017F;agen. Im Ueb-<lb/>
rigen athmet der Brief den fri&#x017F;chen Lebensmuth des Ge-<lb/>
retteten, der noch obendrein einem Wieder&#x017F;ehen mit der geliebten<lb/>
Braut entgegen&#x017F;ieht, und in die&#x017F;er Stimmung bewegt ihn<lb/>
auch das Bewußt&#x017F;ein, von nun ab keine Unter&#x017F;tützung von<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[CLXII/0178] Worms, dann durch die Rheinpfalz an die franzöſiſche Grenze, welche er am 9. März 1835 bei Weißenburg überſchritt. Er hatte dieſe Grenzſtation gewählt, weil er hier ohne Paß durchzukommen hoffte, was auch gelang. Kaum in Sicher- heit, ſchrieb er an die Eltern und theilte die Motive der Flucht mit — daß er ſich in dieſem Briefe (S. 344) an Vater und Mutter wendet, ſpricht nicht gegen obige Ver- muthung, da Dr. Büchner keinesfalls erfahren durfte, daß ſeine Gattin Mitwiſſerin geweſen. Der Brief iſt nach mancherlei Richtung bemerkenswerth. Vor Allem muß es auffallen, daß Büchner noch immer nicht die Wahrheit geſteht und ſich für einen ungerecht Verfolgten ausgibt. Vielleicht verhinderte ihn der Trotz, die jahrelang feſtgehaltene Täuſchung einzu- geſtehen, vielleicht auch das edlere Motiv, die Eltern in ihrem tiefen Schmerze zu tröſten. Hingegen kann es nicht befremden, daß er als ſein einziges Ziel "das Studium der mediciniſch-philoſophiſchen Wiſſenſchaften" bezeichnet und die literariſchen Hoffnungen, die ihn gerade damals ſo lebhaft erfüllten, gänzlich verſchweigt. Denn abgeſehen davon, daß er noch nichts von dem Schickſale ſeines Drama's erfahren, mußte er jede Andeutung hierüber ſchon deßhalb unterlaſſen, weil der Vater durch die Mittheilung von einer dichteriſchen Arbeit nur noch heftiger erzürnt worden wäre. Auch hatte er niemals die Abſicht, ſeine materielle Exiſtenz durch lite- rariſche Thätigkeit zu begründen. "Ruhm will ich davon haben, nicht Brod", pflegte er ſpäter zu ſagen. Im Ueb- rigen athmet der Brief den friſchen Lebensmuth des Ge- retteten, der noch obendrein einem Wiederſehen mit der geliebten Braut entgegenſieht, und in dieſer Stimmung bewegt ihn auch das Bewußtſein, von nun ab keine Unterſtützung von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/178
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CLXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/178>, abgerufen am 27.11.2024.