Unter schwierigeren Verhältnissen mag selten ein poetisches Werk entstanden sein. Büchner's Situation, schon bisher eine peinliche, gestaltete sich allmählig wahrhaft unerträglich. In der zweiten Januarwoche von 1835, als er eben die ersten Szenen seines "Danton" geschrieben hatte, erhielt er plötzlich eine Vorladung des Criminalgerichts in Offenbach. Der Vater war ebenso bestürzt, als erzürnt; die Mutter zerfloß in Thränen, beide beschworen ihn, ihnen die Wahr- heit zu gestehen. Er fühle sich rein, erwiderte er, und be- gab sich nach Offenbach, noch immer der festen Ueberzeugung, daß man keine positiven Beweise gegen ihn habe. Die Ver- nehmung schien dies zu bestätigen, er wurde blos als Zeuge verhört und sollte namentlich über Schütz aussagen; auch entließ man ihn sofort wieder. Gleichwohl kehrte er sehr beunruhigt heim, denn er hatte den Eindruck empfangen, daß man allerdings von ihm und Weidig noch nichts wisse, umsomehr aber von anderen, weniger compromittirten Bündlern. Dies schien ihm nach wie vor räthselhaft und nur durch das Walten eines sonderbaren Zufalls erklärlich; noch immer ahnte er keinen Verrath; trotzdem konnte er sich nicht ver- hehlen, daß ihm die Gefahr näher gerückt. Er suchte dieses Angstgefühl in sonderbarer Art zu ersticken: sein Eifer für die "Gesellschaft" steigerte sich, er verbrachte fast jede Nacht in jenem Häuschen an der Dieburger Landstraße und ar- beitete bei Tage mit fieberhafter Hast an seinem Drama. Es geschah dies am Secirtische des Laboratoriums und wäh- rend jener Stunden, wo Dr. Büchner nicht zu Hause war; anatomische Tafeln, mit welchen er das Manuscript bedecken konnte, lagen stets aufgeschlagen auf dem Tische. Außerdem hielt Wilhelm Wache und meldete rechtzeitig die Heimkehr
Unter ſchwierigeren Verhältniſſen mag ſelten ein poetiſches Werk entſtanden ſein. Büchner's Situation, ſchon bisher eine peinliche, geſtaltete ſich allmählig wahrhaft unerträglich. In der zweiten Januarwoche von 1835, als er eben die erſten Szenen ſeines "Danton" geſchrieben hatte, erhielt er plötzlich eine Vorladung des Criminalgerichts in Offenbach. Der Vater war ebenſo beſtürzt, als erzürnt; die Mutter zerfloß in Thränen, beide beſchworen ihn, ihnen die Wahr- heit zu geſtehen. Er fühle ſich rein, erwiderte er, und be- gab ſich nach Offenbach, noch immer der feſten Ueberzeugung, daß man keine poſitiven Beweiſe gegen ihn habe. Die Ver- nehmung ſchien dies zu beſtätigen, er wurde blos als Zeuge verhört und ſollte namentlich über Schütz ausſagen; auch entließ man ihn ſofort wieder. Gleichwohl kehrte er ſehr beunruhigt heim, denn er hatte den Eindruck empfangen, daß man allerdings von ihm und Weidig noch nichts wiſſe, umſomehr aber von anderen, weniger compromittirten Bündlern. Dies ſchien ihm nach wie vor räthſelhaft und nur durch das Walten eines ſonderbaren Zufalls erklärlich; noch immer ahnte er keinen Verrath; trotzdem konnte er ſich nicht ver- hehlen, daß ihm die Gefahr näher gerückt. Er ſuchte dieſes Angſtgefühl in ſonderbarer Art zu erſticken: ſein Eifer für die "Geſellſchaft" ſteigerte ſich, er verbrachte faſt jede Nacht in jenem Häuschen an der Dieburger Landſtraße und ar- beitete bei Tage mit fieberhafter Haſt an ſeinem Drama. Es geſchah dies am Secirtiſche des Laboratoriums und wäh- rend jener Stunden, wo Dr. Büchner nicht zu Hauſe war; anatomiſche Tafeln, mit welchen er das Manuſcript bedecken konnte, lagen ſtets aufgeſchlagen auf dem Tiſche. Außerdem hielt Wilhelm Wache und meldete rechtzeitig die Heimkehr
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[CLV/0171]
Unter ſchwierigeren Verhältniſſen mag ſelten ein poetiſches
Werk entſtanden ſein. Büchner's Situation, ſchon bisher
eine peinliche, geſtaltete ſich allmählig wahrhaft unerträglich.
In der zweiten Januarwoche von 1835, als er eben die
erſten Szenen ſeines "Danton" geſchrieben hatte, erhielt er
plötzlich eine Vorladung des Criminalgerichts in Offenbach.
Der Vater war ebenſo beſtürzt, als erzürnt; die Mutter
zerfloß in Thränen, beide beſchworen ihn, ihnen die Wahr-
heit zu geſtehen. Er fühle ſich rein, erwiderte er, und be-
gab ſich nach Offenbach, noch immer der feſten Ueberzeugung,
daß man keine poſitiven Beweiſe gegen ihn habe. Die Ver-
nehmung ſchien dies zu beſtätigen, er wurde blos als Zeuge
verhört und ſollte namentlich über Schütz ausſagen; auch
entließ man ihn ſofort wieder. Gleichwohl kehrte er ſehr
beunruhigt heim, denn er hatte den Eindruck empfangen,
daß man allerdings von ihm und Weidig noch nichts wiſſe,
umſomehr aber von anderen, weniger compromittirten Bündlern.
Dies ſchien ihm nach wie vor räthſelhaft und nur durch das
Walten eines ſonderbaren Zufalls erklärlich; noch immer
ahnte er keinen Verrath; trotzdem konnte er ſich nicht ver-
hehlen, daß ihm die Gefahr näher gerückt. Er ſuchte dieſes
Angſtgefühl in ſonderbarer Art zu erſticken: ſein Eifer für
die "Geſellſchaft" ſteigerte ſich, er verbrachte faſt jede Nacht
in jenem Häuschen an der Dieburger Landſtraße und ar-
beitete bei Tage mit fieberhafter Haſt an ſeinem Drama.
Es geſchah dies am Secirtiſche des Laboratoriums und wäh-
rend jener Stunden, wo Dr. Büchner nicht zu Hauſe war;
anatomiſche Tafeln, mit welchen er das Manuſcript bedecken
konnte, lagen ſtets aufgeſchlagen auf dem Tiſche. Außerdem
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CLV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/171>, abgerufen am 27.11.2024.
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