Blick auf Charakter und Ueberzeugungen Weidigs unum- gänglich sein.
"Sein Leben, wie sein Tod waren gleichermaßen ein Opfer für das Vaterland" -- so hat ein hervorragender Geschichtsschreiber über Weidig geurtheilt und damit scharf den Hauptzug dieses Charakters hervorgehoben: die völlige Aufopferung aller persönlichen Interessen für eine große Idee. Um ein Beispiel ähnlicher grenzenloser, fast unheimlicher Selbstlosigkeit aufzufinden, müßte man weit zurückgreifen, in die Tage des Solon oder Aristides. Aber diese wuchsen in der freien Luft eines starken Gemeinwesens empor, geläutert und erzogen durch ein gewaltiges Pflichtgefühl Aller -- Weidig hingegen in einem verrotteten Kleinstaat, als Sohn eines uneinigen, unpolitischen Volkes. Und doch opferte er nicht blos sein Vermögen, nicht blos sein Leben, sondern auch Glück und Gedeihen seiner Familie und seiner Schüler dem einen Ziel: dem Heil seines Volkes. Rechnet man hinzu, daß sein Verstand ebenso scharf war, als sein Herz zartfühlend und rücksichtsvoll, so begreift man, wie das Seelenleben dieses Mannes Freunden und Feinden ein Räthsel war, wie sich die buntesten Urtheile über ihn kreuzen und sein Bild verwirren. Dem Einen ist er ein "Verführer der Jugend", dem Anderen der "politische Luther der Deutschen", der Dritte meint, seine religiöse Schwärmerei habe ihn zum Revolutionär gemacht, der Vierte, er sei wohl im Herzen ungläubig gewesen, weil er mit der atheistischen Revolution gemeinsame Sache machte. Vielleicht ist die schlichteste Er- klärung die beste: Weidig's religiöse Begeisterung war so echt, wie die politische, beide wuchsen in seinem Herzen un- löslich zusammen, beide vereint gaben ihm die Kraft seiner
Blick auf Charakter und Ueberzeugungen Weidigs unum- gänglich ſein.
"Sein Leben, wie ſein Tod waren gleichermaßen ein Opfer für das Vaterland" — ſo hat ein hervorragender Geſchichtsſchreiber über Weidig geurtheilt und damit ſcharf den Hauptzug dieſes Charakters hervorgehoben: die völlige Aufopferung aller perſönlichen Intereſſen für eine große Idee. Um ein Beiſpiel ähnlicher grenzenloſer, faſt unheimlicher Selbſtloſigkeit aufzufinden, müßte man weit zurückgreifen, in die Tage des Solon oder Ariſtides. Aber dieſe wuchſen in der freien Luft eines ſtarken Gemeinweſens empor, geläutert und erzogen durch ein gewaltiges Pflichtgefühl Aller — Weidig hingegen in einem verrotteten Kleinſtaat, als Sohn eines uneinigen, unpolitiſchen Volkes. Und doch opferte er nicht blos ſein Vermögen, nicht blos ſein Leben, ſondern auch Glück und Gedeihen ſeiner Familie und ſeiner Schüler dem einen Ziel: dem Heil ſeines Volkes. Rechnet man hinzu, daß ſein Verſtand ebenſo ſcharf war, als ſein Herz zartfühlend und rückſichtsvoll, ſo begreift man, wie das Seelenleben dieſes Mannes Freunden und Feinden ein Räthſel war, wie ſich die bunteſten Urtheile über ihn kreuzen und ſein Bild verwirren. Dem Einen iſt er ein "Verführer der Jugend", dem Anderen der "politiſche Luther der Deutſchen", der Dritte meint, ſeine religiöſe Schwärmerei habe ihn zum Revolutionär gemacht, der Vierte, er ſei wohl im Herzen ungläubig geweſen, weil er mit der atheiſtiſchen Revolution gemeinſame Sache machte. Vielleicht iſt die ſchlichteſte Er- klärung die beſte: Weidig's religiöſe Begeiſterung war ſo echt, wie die politiſche, beide wuchſen in ſeinem Herzen un- löslich zuſammen, beide vereint gaben ihm die Kraft ſeiner
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[XCVIII/0114]
Blick auf Charakter und Ueberzeugungen Weidigs unum-
gänglich ſein.
"Sein Leben, wie ſein Tod waren gleichermaßen ein
Opfer für das Vaterland" — ſo hat ein hervorragender
Geſchichtsſchreiber über Weidig geurtheilt und damit ſcharf
den Hauptzug dieſes Charakters hervorgehoben: die völlige
Aufopferung aller perſönlichen Intereſſen für eine große Idee.
Um ein Beiſpiel ähnlicher grenzenloſer, faſt unheimlicher
Selbſtloſigkeit aufzufinden, müßte man weit zurückgreifen, in
die Tage des Solon oder Ariſtides. Aber dieſe wuchſen in
der freien Luft eines ſtarken Gemeinweſens empor, geläutert
und erzogen durch ein gewaltiges Pflichtgefühl Aller —
Weidig hingegen in einem verrotteten Kleinſtaat, als Sohn
eines uneinigen, unpolitiſchen Volkes. Und doch opferte er
nicht blos ſein Vermögen, nicht blos ſein Leben, ſondern
auch Glück und Gedeihen ſeiner Familie und ſeiner Schüler
dem einen Ziel: dem Heil ſeines Volkes. Rechnet man
hinzu, daß ſein Verſtand ebenſo ſcharf war, als ſein Herz
zartfühlend und rückſichtsvoll, ſo begreift man, wie das
Seelenleben dieſes Mannes Freunden und Feinden ein Räthſel
war, wie ſich die bunteſten Urtheile über ihn kreuzen und
ſein Bild verwirren. Dem Einen iſt er ein "Verführer der
Jugend", dem Anderen der "politiſche Luther der Deutſchen",
der Dritte meint, ſeine religiöſe Schwärmerei habe ihn zum
Revolutionär gemacht, der Vierte, er ſei wohl im Herzen
ungläubig geweſen, weil er mit der atheiſtiſchen Revolution
gemeinſame Sache machte. Vielleicht iſt die ſchlichteſte Er-
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echt, wie die politiſche, beide wuchſen in ſeinem Herzen un-
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XCVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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