zu dürfen, nicht Jedem, sondern nur Jenen, die ihm zu Ge- sichte standen. Lieber hungerte er, und da es sich oft fügte, daß die Freunde seiner vergaßen, so hungerte er oft drei, vier Tage lang, ohne eine Miene zu verziehen, ohne durch ein Wort der Klage das Mitleid auf sich zu lenken. Das zeugte immerhin von Charakter und noch mehr ward Büchner überrascht und gefesselt, als er erkannte, daß dieser mißachtete Tagedieb nicht blos ein hochbegabter, sondern im Grunde auch ein hochgebildeter Mensch sei. Becker hatte nichts ernstlich betrieben, aber ganz erstaunlich viel gelesen und besaß so, von einem seltenen Gedächtniß unterstützt, fast in jedem Gebiet des Wissens ausreichende, in Geschichte und Literatur ausgezeichnete Kenntnisse -- nur sein "Studium", die Theologie, war ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Frei- lich mußte man ihm schon näher gekommen sein, um dies zu gewahren, im gewöhnlichen Verkehr gab er sich geflissent- lich als roh und unwissend, suchte jedes edlere Gespräch durch einen schalen Witz abzuschneiden und war überhaupt ängstlich bemüht, Anderen den Eindruck eines völlig ver- kommenen, cynischen und bornirten Menschen zu machen. Büchner's psychologischer Scharfblick erkannte bald, daß ihm hier ein eigenthümliches Seelenräthsel entgegentrete, und was er zu dessen Lösung erfuhr, war geeignet, seine Sym- pathien zu erwecken. August Becker hatte, obwohl kaum zweiundzwanzig Jahre alt, bereits eine Last von Schmerzen und Demüthigungen ertragen, wie sie sich auf wenige Menschen während eines langen Lebens häuft. Der ängst- lich gehütete Sohn einer frommen Pfarrersfamilie, hatte er nach dem Tode des Vaters in zartem Alter den Kampf mit dem Leben aufnehmen müssen. Jeder kärgliche Bissen,
zu dürfen, nicht Jedem, ſondern nur Jenen, die ihm zu Ge- ſichte ſtanden. Lieber hungerte er, und da es ſich oft fügte, daß die Freunde ſeiner vergaßen, ſo hungerte er oft drei, vier Tage lang, ohne eine Miene zu verziehen, ohne durch ein Wort der Klage das Mitleid auf ſich zu lenken. Das zeugte immerhin von Charakter und noch mehr ward Büchner überraſcht und gefeſſelt, als er erkannte, daß dieſer mißachtete Tagedieb nicht blos ein hochbegabter, ſondern im Grunde auch ein hochgebildeter Menſch ſei. Becker hatte nichts ernſtlich betrieben, aber ganz erſtaunlich viel geleſen und beſaß ſo, von einem ſeltenen Gedächtniß unterſtützt, faſt in jedem Gebiet des Wiſſens ausreichende, in Geſchichte und Literatur ausgezeichnete Kenntniſſe — nur ſein "Studium", die Theologie, war ihm ein Buch mit ſieben Siegeln. Frei- lich mußte man ihm ſchon näher gekommen ſein, um dies zu gewahren, im gewöhnlichen Verkehr gab er ſich gefliſſent- lich als roh und unwiſſend, ſuchte jedes edlere Geſpräch durch einen ſchalen Witz abzuſchneiden und war überhaupt ängſtlich bemüht, Anderen den Eindruck eines völlig ver- kommenen, cyniſchen und bornirten Menſchen zu machen. Büchner's pſychologiſcher Scharfblick erkannte bald, daß ihm hier ein eigenthümliches Seelenräthſel entgegentrete, und was er zu deſſen Löſung erfuhr, war geeignet, ſeine Sym- pathien zu erwecken. Auguſt Becker hatte, obwohl kaum zweiundzwanzig Jahre alt, bereits eine Laſt von Schmerzen und Demüthigungen ertragen, wie ſie ſich auf wenige Menſchen während eines langen Lebens häuft. Der ängſt- lich gehütete Sohn einer frommen Pfarrersfamilie, hatte er nach dem Tode des Vaters in zartem Alter den Kampf mit dem Leben aufnehmen müſſen. Jeder kärgliche Biſſen,
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[XCIV/0110]
zu dürfen, nicht Jedem, ſondern nur Jenen, die ihm zu Ge-
ſichte ſtanden. Lieber hungerte er, und da es ſich oft fügte,
daß die Freunde ſeiner vergaßen, ſo hungerte er oft drei,
vier Tage lang, ohne eine Miene zu verziehen, ohne durch
ein Wort der Klage das Mitleid auf ſich zu lenken. Das
zeugte immerhin von Charakter und noch mehr ward Büchner
überraſcht und gefeſſelt, als er erkannte, daß dieſer mißachtete
Tagedieb nicht blos ein hochbegabter, ſondern im Grunde
auch ein hochgebildeter Menſch ſei. Becker hatte nichts
ernſtlich betrieben, aber ganz erſtaunlich viel geleſen und
beſaß ſo, von einem ſeltenen Gedächtniß unterſtützt, faſt in
jedem Gebiet des Wiſſens ausreichende, in Geſchichte und
Literatur ausgezeichnete Kenntniſſe — nur ſein "Studium",
die Theologie, war ihm ein Buch mit ſieben Siegeln. Frei-
lich mußte man ihm ſchon näher gekommen ſein, um dies
zu gewahren, im gewöhnlichen Verkehr gab er ſich gefliſſent-
lich als roh und unwiſſend, ſuchte jedes edlere Geſpräch
durch einen ſchalen Witz abzuſchneiden und war überhaupt
ängſtlich bemüht, Anderen den Eindruck eines völlig ver-
kommenen, cyniſchen und bornirten Menſchen zu machen.
Büchner's pſychologiſcher Scharfblick erkannte bald, daß
ihm hier ein eigenthümliches Seelenräthſel entgegentrete, und
was er zu deſſen Löſung erfuhr, war geeignet, ſeine Sym-
pathien zu erwecken. Auguſt Becker hatte, obwohl kaum
zweiundzwanzig Jahre alt, bereits eine Laſt von Schmerzen
und Demüthigungen ertragen, wie ſie ſich auf wenige
Menſchen während eines langen Lebens häuft. Der ängſt-
lich gehütete Sohn einer frommen Pfarrersfamilie, hatte er
nach dem Tode des Vaters in zartem Alter den Kampf
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. XCIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/110>, abgerufen am 25.11.2024.
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