Verstand und Ueberlegung in gewisse Grenzen zu bannen vermögen. Der Fünfte besitzt eine große Neigung zu Kindern und ist der beste Vater, der liebenswürdigste Kinderfreund, während einen Sechsten der Mangel dieses Charakterzugs vielleicht rauh und lieblos erscheinen läßt. Eitelkeit oder Beifallsliebe kann die Ursache der größten Verbrechen oder der verkehrtesten Handlungen werden, und Festigkeit kann einen Menschen, dem auch nur die mittelmäßigsten Geistesgaben zukommen, zu den bedeutend- sten Resultaten in Erstrebung irdischer Zwecke gelangen lassen. Welche Verkehrtheiten und unglaubliche Dinge hat der Sinn für Wunderbares im Menschen schon ange- richtet! Alle diese natürlichen Neigungen sind so mächtig in der menschlichen Natur, daß die Ueberlegung ihnen nur einen geringen, die Religion meist gar keinen Damm entgegenzusetzen vermag; und stets bemerken wir, wie der Mensch am liebsten und leichtesten seiner Natur folgt. Wir stehen einem Leidenden bei, nicht weil es die Gesetze der Moral so wollen, sondern weil uns das Mitleid dazu drängt. Wie oft kommt es vor, daß ein Mensch sich selbst und seine geistige Jndividualität genau kennt, daß er weiß, welche Fehler er machen wird u. s. w.; dennoch sieht er sich nicht im Stande, gegen diesen inneren geistigen Zwang mit Erfolg anzukämpfen. Auch die mannigfaltigen sonderbaren Widersprüche in der moralischen Natur des einzelnen Menschen (Frommheit
Verſtand und Ueberlegung in gewiſſe Grenzen zu bannen vermögen. Der Fünfte beſitzt eine große Neigung zu Kindern und iſt der beſte Vater, der liebenswürdigſte Kinderfreund, während einen Sechsten der Mangel dieſes Charakterzugs vielleicht rauh und lieblos erſcheinen läßt. Eitelkeit oder Beifallsliebe kann die Urſache der größten Verbrechen oder der verkehrteſten Handlungen werden, und Feſtigkeit kann einen Menſchen, dem auch nur die mittelmäßigſten Geiſtesgaben zukommen, zu den bedeutend- ſten Reſultaten in Erſtrebung irdiſcher Zwecke gelangen laſſen. Welche Verkehrtheiten und unglaubliche Dinge hat der Sinn für Wunderbares im Menſchen ſchon ange- richtet! Alle dieſe natürlichen Neigungen ſind ſo mächtig in der menſchlichen Natur, daß die Ueberlegung ihnen nur einen geringen, die Religion meiſt gar keinen Damm entgegenzuſetzen vermag; und ſtets bemerken wir, wie der Menſch am liebſten und leichteſten ſeiner Natur folgt. Wir ſtehen einem Leidenden bei, nicht weil es die Geſetze der Moral ſo wollen, ſondern weil uns das Mitleid dazu drängt. Wie oft kommt es vor, daß ein Menſch ſich ſelbſt und ſeine geiſtige Jndividualität genau kennt, daß er weiß, welche Fehler er machen wird u. ſ. w.; dennoch ſieht er ſich nicht im Stande, gegen dieſen inneren geiſtigen Zwang mit Erfolg anzukämpfen. Auch die mannigfaltigen ſonderbaren Widerſprüche in der moraliſchen Natur des einzelnen Menſchen (Frommheit
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Verſtand und Ueberlegung in gewiſſe Grenzen zu bannen
vermögen. Der Fünfte beſitzt eine große Neigung zu
Kindern und iſt der beſte Vater, der liebenswürdigſte
Kinderfreund, während einen Sechsten der Mangel dieſes
Charakterzugs vielleicht rauh und lieblos erſcheinen läßt.
Eitelkeit oder Beifallsliebe kann die Urſache der größten
Verbrechen oder der verkehrteſten Handlungen werden,
und Feſtigkeit kann einen Menſchen, dem auch nur die
mittelmäßigſten Geiſtesgaben zukommen, zu den bedeutend-
ſten Reſultaten in Erſtrebung irdiſcher Zwecke gelangen
laſſen. Welche Verkehrtheiten und unglaubliche Dinge
hat der Sinn für Wunderbares im Menſchen ſchon ange-
richtet! Alle dieſe natürlichen Neigungen ſind ſo mächtig
in der menſchlichen Natur, daß die Ueberlegung ihnen
nur einen geringen, die Religion meiſt gar keinen Damm
entgegenzuſetzen vermag; und ſtets bemerken wir, wie
der Menſch am liebſten und leichteſten ſeiner Natur folgt.
Wir ſtehen einem Leidenden bei, nicht weil es die Geſetze
der Moral ſo wollen, ſondern weil uns das Mitleid
dazu drängt. Wie oft kommt es vor, daß ein Menſch
ſich ſelbſt und ſeine geiſtige Jndividualität genau kennt,
daß er weiß, welche Fehler er machen wird u. ſ. w.;
dennoch ſieht er ſich nicht im Stande, gegen dieſen
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/270>, abgerufen am 22.11.2024.
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