schränkung nicht unterliegen, ist gerade so weit richtig, als der Einzelne Lust hat, es zu glauben. Wenn das Eisenblech in die Form des Nagels gepreßt wird, ent- spricht es darnach der Jdee des Blechs? Nicht vielmehr der des Nagels? Dennoch bleiben Blech und Nagel eisern. Wenn die Puppe zum Schmetterling wird, was geschieht da mehr oder weniger, als wenn das Blech ein Nagel wird?" Die Verschiedenheit zwischen organi- schen und anorganischen Formen entsteht eben nur dadurch, daß die erste Anordnung der Molekule eine verschiedene ist und damit den Keim jener Formen einschließt. Aber die Bildung des Krystalls zeigt, wie auch in der anorga- nischen Welt bestimmte Formgesetze bestehen, welche nicht überschritten werden können und sich denen der organi- schen Welt annähern. "Die Berufung auf die Lebens- kraft," sagt Vogt, "ist nur eine Umschreibung der Unwissenheit. Sie gehört zu der Zahl jener Hinter- thüren, deren man so manche in den Wissenschaften besitzt und die stets der Zufluchtsort müßiger Geister sein wer- den, welche sich die Mühe nicht nehmen mögen, etwas ihnen Unbegreifliches zu erforschen, sondern sich begnügen, das scheinbare Wunder anzustaunen." Die Lehre von der Lebenskraft ist heute eine verlorene Sache. So sehr sich die Mystiker unter den Naturforschern bemühen mögen, diesem Schatten neues Leben einzuhauchen, so kläglich die Metaphysiker gegen die Anmaßung und das
ſchränkung nicht unterliegen, iſt gerade ſo weit richtig, als der Einzelne Luſt hat, es zu glauben. Wenn das Eiſenblech in die Form des Nagels gepreßt wird, ent- ſpricht es darnach der Jdee des Blechs? Nicht vielmehr der des Nagels? Dennoch bleiben Blech und Nagel eiſern. Wenn die Puppe zum Schmetterling wird, was geſchieht da mehr oder weniger, als wenn das Blech ein Nagel wird?‟ Die Verſchiedenheit zwiſchen organi- ſchen und anorganiſchen Formen entſteht eben nur dadurch, daß die erſte Anordnung der Molekule eine verſchiedene iſt und damit den Keim jener Formen einſchließt. Aber die Bildung des Kryſtalls zeigt, wie auch in der anorga- niſchen Welt beſtimmte Formgeſetze beſtehen, welche nicht überſchritten werden können und ſich denen der organi- ſchen Welt annähern. „Die Berufung auf die Lebens- kraft,‟ ſagt Vogt, „iſt nur eine Umſchreibung der Unwiſſenheit. Sie gehört zu der Zahl jener Hinter- thüren, deren man ſo manche in den Wiſſenſchaften beſitzt und die ſtets der Zufluchtsort müßiger Geiſter ſein wer- den, welche ſich die Mühe nicht nehmen mögen, etwas ihnen Unbegreifliches zu erforſchen, ſondern ſich begnügen, das ſcheinbare Wunder anzuſtaunen.‟ Die Lehre von der Lebenskraft iſt heute eine verlorene Sache. So ſehr ſich die Myſtiker unter den Naturforſchern bemühen mögen, dieſem Schatten neues Leben einzuhauchen, ſo kläglich die Metaphyſiker gegen die Anmaßung und das
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ſchränkung nicht unterliegen, iſt gerade ſo weit richtig,
als der Einzelne Luſt hat, es zu glauben. Wenn das
Eiſenblech in die Form des Nagels gepreßt wird, ent-
ſpricht es darnach der Jdee des Blechs? Nicht vielmehr
der des Nagels? Dennoch bleiben Blech und Nagel
eiſern. Wenn die Puppe zum Schmetterling wird,
was geſchieht da mehr oder weniger, als wenn das Blech
ein Nagel wird?‟ Die Verſchiedenheit zwiſchen organi-
ſchen und anorganiſchen Formen entſteht eben nur dadurch,
daß die erſte Anordnung der Molekule eine verſchiedene
iſt und damit den Keim jener Formen einſchließt. Aber
die Bildung des Kryſtalls zeigt, wie auch in der anorga-
niſchen Welt beſtimmte Formgeſetze beſtehen, welche nicht
überſchritten werden können und ſich denen der organi-
ſchen Welt annähern. „Die Berufung auf die Lebens-
kraft,‟ ſagt Vogt, „iſt nur eine Umſchreibung der
Unwiſſenheit. Sie gehört zu der Zahl jener Hinter-
thüren, deren man ſo manche in den Wiſſenſchaften beſitzt
und die ſtets der Zufluchtsort müßiger Geiſter ſein wer-
den, welche ſich die Mühe nicht nehmen mögen, etwas
ihnen Unbegreifliches zu erforſchen, ſondern ſich begnügen,
das ſcheinbare Wunder anzuſtaunen.‟ Die Lehre von
der Lebenskraft iſt heute eine verlorene Sache. So ſehr
ſich die Myſtiker unter den Naturforſchern bemühen
mögen, dieſem Schatten neues Leben einzuhauchen, ſo
kläglich die Metaphyſiker gegen die Anmaßung und das
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/248>, abgerufen am 22.11.2024.
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